Abkehr von Gewalt und Drogen

Von Ruth Reichstein |
Einst galt die kolumbianische Stadt Medellín als gefährlichster Ort der Welt. Drogenkartelle kontrollierten die Straßen, auf 1000 Einwohner kamen bis zu 380 Morde im Jahr. Doch es hat sich viel geändert - was auch den Jugendlichen zu verdanken ist.
Das eigene Wort ist kaum zu verstehen - so laut sind die Lastwagen, die den Hang hinunter brettern. Sie bringen den Müll aus den höher gelegenen Vierteln des 13. Stadtbezirks in Medellin nach unten Richtung Müllverbrennungsanlage. Marlon Vargas stampft mit großen Schritten in die entgegengesetzte Richtung. Der 24-Jährige ist auf dem Heimweg von der Universität. Er läuft. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, sein Haus hoch auf den Hügeln von Medellín zu erreichen.

Sein Viertel zählt zu den Ärmsten der Stadt. Die Häuser sind unverputzt. Viele haben keine Fenster. In diesen Straßen und Gassen tobte bis vor gut zehn Jahren der Drogenkrieg. Kolumbien war das Anbaugebiet für Kokain und Medellín die Hauptstadt der Drogenkartelle. Marlon Vargas erinnert sich:

"Ich war damals noch ziemlich klein. Aber ich kann mich gut erinnern, dass es eine sehr traurige Zeit war. Ständig hat jemand geweint. Wenn ich in die Schule gegangen bin, lagen oft Körperteile auf der Straße. Ich weiß nicht: Arme, eine Hand, ein Fuß. Körperteile eben. Einmal, um fünf Uhr morgens, es wurde gerade erst hell, da lag da ein Körper, ein Toter und jemand saß daneben und weinte. Das war alles sehr hart und das werde ich nie vergessen."

Medellín galt damals als die gefährlichste und die gewalttätigste Stadt der Welt. Ende der 80er-Jahre kamen auf 1000 Einwohner 380 Morde im Jahr. Wer einen Killer brauchte, fand ihn unter den Jugendlichen im Viertel. Rund 250 Euro kostete ein Leben. Der Drogenbaron Pablo Escobar herrschte über die Stadt und ließ alle, die sich ihm in den Weg stellten, aus dem Weg räumen: Politiker, Journalisten, Menschenrechtler.

Marlon Vargas schließt die Haustür auf. Aus dem Nachbarhaus schallt Salsa-Musik. Fenster gibt es keine. Marlon lebt in einem kleinen zwei Stockwerke hohen Häuschen mit seiner Mutter und seinem Bruder. Das Haus hat ihnen der Vater, zu dem er sonst keinen Kontakt hat, geliehen. Sie versuchen, viel Geld zu sparen, um es ihm abkaufen zu können. Der breitschultrige junge Mann schiebt seine Schirmmütze aus der Stirn und setzt sich auf die Mauer, die den Balkon umgibt. Viel hat sich in Medellín in den vergangenen zehn Jahren verändert, erzählt er: Die großen Drogenkartelle sind auseinander gebrochen. Die Gewalt ist zurückgegangen. Heute zählt die offizielle Statistik rund 40 Morde im Jahr. Das ist nicht mehr als in Washington oder Caracas.

"Es gibt noch immer Straßengangs im Viertel, die sich um die Kontrolle der Straßen streiten. Und sie haben Waffen. Genauso wie die Polizei. Durch diese Kämpfe entstehen unsichtbare Grenzen in den Vierteln, die man lieber nicht überqueren sollte. Aber ich gehe überall hin, wo ich Menschen kenne. Jeder sollte das Recht haben, hinzugehen, wohin er will."

Die nach Bogotá zweitgrößte Stadt Kolumbiens hat in den vergangenen zehn Jahren investiert. Nicht nur in Infrastruktur, sondern auch und vor allem in soziale Projekte. Aus einer repressiven, ja fast schon militärischen Politik entwickelte sich ein Ansatz, die Jugendlichen nicht nur als Gefahr, sondern auch als Chance für die Stadt zu begreifen. Eine kleine Revolution in Medellín:

"Natürlich brauchen wir auch Polizei. Man muss Autorität ausüben. Aber wir können heute nicht einfach alle Jugendlichen aus den Problemvierteln ins Gefängnis sperren und glauben, damit wären alle Probleme gelöst. Das ist nicht der Fall. Die Jugendlichen von 13, 14 Jahren, die müssen Licht am Ende des Tunnels sehen. Sie müssen zum Beispiel begreifen, dass es wichtig ist, einen Schulabschluss zu machen …"

... sagt der Staatssekretär Mauricio Facio Lince. Er sitzt im Rathaus in der Innenstadt und ist stolz auf das bereits Erreichte. Die Stadt baut Schulen in den Problemvierteln, verbessert den öffentlichen Nahverkehr. Medellín hat die wohl modernste U-Bahn in ganz Südamerika. Und zwei Seilbahnen schweben über die ärmsten Viertel an den Hügelflanken. Gleichzeitig steckt die Stadt Geld in verschiedene Programme für Jugendliche. Zurzeit studieren etwa 50.000 mit Stipendien der Stadt. Sie finanziert Musikgruppen, Graffiti-Projekte und Jugendzentren. Das verändere nicht nur das Stadtbild, sondern auch die Mentalität der Menschen, sagt Mauricio Facio Lince:

"Sie werden zu Bürgern. Sie integrieren sich in ihrer Stadt. Sie haben den Staat bis dahin immer nur erlebt als ein gewalttätiges Monster gegen sie. Sie haben nie erfahren, dass man sich um sie kümmert. Heute sind sie stolz auf ihre Viertel. Das ist wichtig. Früher sind die Leute nicht in den Stadtbezirk 1 oder 13 gegangen, weil die Leute da umgebracht worden sind. Heute gehen sie hin und fahren mit der Seilbahn. Das ist etwas ganz anderes."

Marlon Vargas freut sich über die Veränderungen in seinem Viertel. Auf seinem Weg kommt er jeden Tag an einem neuen Spielplatz vorbei. Auch die Straße davor wurde kürzlich geteert. Aber er findet auch, dass die Stadt die Prioritäten falsch setzt:

"Sie sollten das Geld zum Beispiel lieber ins Gesundheitssystem stecken. Was bringt Dir eine neue Straße, wenn Du keinen Arzt hast, wenn Du krank bist? Wir haben hier nur ein einziges Krankenhaus für 100.000 Menschen. Es leben Menschen auf der Straße, die nichts haben. Einige Häuser am Stadtrand haben nicht mal Wasser und Strom."

Zu der Charmeoffensive der Stadt gehört auch, einige Vorzeige-Jugendliche in die Stadtverwaltung zu holen. Lucas Canas ist seit ein paar Monaten zuständig für die Jugendpolitik der Stadt. Er ist selbst erst 26 Jahre alt. Sein grauer Nadelstreifenanzug wirkt ein wenig wie eine Verkleidung. Aber sein Auftrag ist klar: Er soll die Jugendlichen wegholen von der Straße und von den Gangs:

"Wir wissen, dass die Jugendlichen ein unglaubliches Potential haben. Aber sie müssen es erst entwickeln. Dabei wollen wir ihnen helfen. Unsere Programme sollen helfen, dass sich die Jugendlichen entscheiden für ein friedliches Zusammenleben in ihren Vierteln. Denn wir wissen, dass es Gewalt gibt. Wir wissen, dass es Gruppen gibt, die den Jugendlichen negative Angebote machen. Dagegen wollen wir steuern, damit die Jugendlichen sich gegen die Waffen und Konflikte entscheiden."

Das ist besonders wichtig in Medellín, der Zwei-Millionen-Stadt, in der die 14- bis 26-Jährigen fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Zukunft der Stadt liegt in ihren Händen. Aber noch sind über 28 Prozent der Jugendlichen arbeitslos. Die liberale Stadtregierung unter Bürgermeister Aníbal Gaviria Correa will die Jugendarbeitslosigkeit in den kommenden vier Jahren halbieren.

Marlon Vargas kauft an einem Kiosk in seinem Viertel ein Malzbier und lässt sich eine Zigarette anzünden. Der Besitzer gewährt ihm großzügig Kredit. Man kennt ihn als verlässlichen Kunden. Marlon hat seine Entscheidung bereits getroffen: Er studiert Kulturmanagement an der Universität, arbeitet in einer Jugendgruppe und ist außerdem DJ in einer Hip-Hop-Band. Die Musik, sagt er, ist seine Zukunft - nicht Waffen.

"Ich hätte mich schon für eine Gang entscheiden können. Die meisten hier haben keine Träume. Sie sehen keine Möglichkeiten für ihre Zukunft. Sie haben keine guten Schulabschlüsse und sitzen zu Hause und langweilen sich. Also machen sie das, was am einfachsten ist: Sie schließen sich einer Bande an. So können sie beweisen, dass sie etwas wert sind. Geld und Waffen bedeuten Macht. Aber ich habe mich bisher noch nicht dafür interessiert. Mit meiner Musikgruppe 'C15' habe ich gelernt, dass ich etwas anderes machen kann, dass ich Dinge verändern kann."

Die Stadt verändern, das will auch Ana Maria Arias Quintero. Die 27-Jährige steht neben der Bühne eines Freilufttheaters im Stadtbezirk 6. Sie versucht vergeblich, ihre langen schwarzen Haare mit einer Haarspange zu bändigen. Das Viertel liegt im Norden der Stadt und es gleicht dem Stadtbezirk 13, in dem Marlon lebt: Auch hier leben die Armen der Stadt in unverputzten Häusern. Die Straßen sind staubig und ungeteert. Auf der Bühne tanzen vier Jugendliche Tango. Die Mädchen tragen knallrote, enganliegende Kleider. Die Jungen stecken in schwarzen Anzügen - wie die Profis.

Ein paar Dutzend Zuschauer folgen den Schritten der Amateur-Gruppe. Ana Maria ist seit ein paar Monaten die Direktorin des Kulturzentrums. Sie hat sich auf eine Treppenstufe am Rand der Bühne gesetzt und sortiert die Blätter für eine kleine Ansprache nach der Vorstellung. Sie ist überzeugt, dass Kunst und Kultur vor Gewalt schützen können:

"Viele Leute, die sich an den bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligen, suchen Anerkennung. Es gibt natürlich viele Gründe, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen. Aber die Anerkennung ist sehr wichtig für den Menschen. Ein Junge, der in einer Tanz- oder einer Theatergruppe ist, erfährt eine andere Art von Anerkennung. Und diese Anerkennung ist positiv. Er bekommt sie für das, was er tut. Das schützt ihn davor, in die Gewalt abzudriften."

Fast jeder in den ärmeren Vierteln in Medellín hat ähnliches erlebt. Marlon Vargas hat vor drei Jahren einen Freund verloren, der mit ihm in der Band spielte. Warum er umgebracht wurde auf offener Straße, weiß Marlon nicht oder will es zumindest nicht sagen. Trotzdem hat er Hoffnung, dass die Gewalt nicht mehr in dem Maße zurückkommt und dass die Jugendlichen die neuen Angebote annehmen:

"Ich gehe durch die Straßen der Kommune, egal zu welcher Uhrzeit. Mit der Musik habe ich mir Respekt erarbeitet. Die Leute kennen mich. Und das ist eine Form, sich zu schützen. Und ich habe einen anderen Vorteil, wenn man so will: Die Leute, die hier Angst und Schrecken verbreiten, hören Hip-Hop und deshalb haben sie Respekt vor mir. Mit der Musik können wir sie beeinflussen. Wir können ihnen unsere Botschaften vermitteln, zeigen, dass es Alternativen zu den Waffen gibt."

Seine Alternative ist die Musik. Und im Jugendzentrum "Casa morada" - dem lilafarbenen Haus - hat er mit seiner Gruppe "C15" Raum gefunden, um zu proben, gemeinsam Spaß zu haben. Es gibt einen kleinen Proberaum, Internet, verschiedene Workshops, sogar ein eigenes Radiostudio in der Besenkammer neben der Küche. Es ist eine private Initiative. Bisher gibt die Stadt keine Fördergelder. Aber den Gründern ist es die Sache wert, sagt Lukas, einer der Verantwortlichen:

"Es ist der Versuch, eine Alternative zu schaffen für die Jugendlichen. An jeder Straßenecken müssen sich die Jungs entscheiden: Entweder sie gehen in die eine Richtung und schließen sich einer Bande von Drogenhändlern an oder sie kommen hierher. Dann können sie etwas machen aus ihrem Leben - zum Beispiel mit der Musik. Das ist der Sinn unseres Projekts."

In der Gruppe singen und spielen fünf junge Männer zwischen 20 und 35 Jahren. Sie alle könnten auch mit Waffen durch die Straßen ziehen. Stattdessen singen sie von Liebe, Freundschaft und erinnern an die Toten der Vergangenheit, erzählt Marlon Vargas, der den Künstlernamen DJ Maya trägt. Er fährt mit seiner Hand liebevoll über die Schallplatte, die er gerade auf den Plattenteller legt.

"'C15' singt vor allem über die Gefühle und die Stimmung hier in der 13. Kommune. Wir singen über die Liebe, über das Leben. 'Ich bin am Leben, Du kannst mich anfassen. Ich bin Dein Freund.' Wir singen auch über die Toten, weil sie nicht verschwunden sind. Über die Opfer. Wir singen, damit sich die Welt ändert, wir wollen eine bessere Welt. Das ist 'C15'. Wir können nicht einfach sagen: Weil es hier Gewalt gibt, gehe ich. Ich ergebe mich. Nein. Wir haben unsere Geheimwaffen: Die Musik, den Gesang, diese Formen, sich auszudrücken. Das sind unsere Waffen gegen die Gewalt, die wir hier erleben."

Mittlerweile kommen viele Politiker und Polizeifunktionäre aus anderen süd- und mittelamerikanischen Ländern ins kolumbianische Medellín. Sie wollen sich ein Beispiel nehmen, begreifen, wie sich die Stadt vom Diktat der Drogenbarone befreit hat. Für die Stadtregierung ist das ein besonderer Erfolg. Denn das oberste Ziel der Stadtoberen ist es, aus Medellín wieder eine attraktive Metropole zu machen, erklärt der Staatssekretär Mauricio Facio Lince:

"Wir hier in Medellín haben einen großen Vorteil: Der Name unserer Stadt ist weltweit bekannt. Es ist viel einfacher, einen negativen Namen in einen positiven zu verwandeln, als einen positiven Namen auf etwas zu kleben, was völlig unbekannt ist. Wir sagen: Kommt und schaut, wie sich Medellín verwandelt. Wenn wir sagen würden: Kommt nach Sucre-Bolivia, würden alle sagen: Was soll das denn sein? Das kommt nicht auf der Weltkarte nicht vor. Medellín schon - bisher mit einem schlechten Ruf. Aber das können wir jetzt ändern."


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