Abolitionismus
Sind Gefängnisse ein Auslaufmodell? Wenn es nach dem Willen von Abolitionisten geht, sollen sie ersetzt werden durch zivilgesellschaftliche Institutionen, in denen das Opfer mehr Mitsprache erhält. © picture alliance / imageBROKER / Karl-Heinz Spremberg
Eine Welt ohne Polizei und Gefängnisse
Anhänger des heutigen Abolitionismus treten für die Abschaffung von Polizei und Gefängnissen ein. An deren Stelle sollen emanzipatorische Umgangsformen treten, die einen Ausgleich zwischen Opfer und Täter ermöglichen. Kann das funktionieren?
Inhaltsverzeichnis
Was ist Abolitionismus?
Verbunden wird der Begriff Abolitionismus oft mit einer Bewegung von christlichen und aufgeklärten weißen Männern, die im 18. und 19. Jahrhundert für die Abschaffung der Sklaverei eintraten. „Abolitio“ ist Lateinisch und bedeutet genau das: „Abschaffung“ oder „Aufhebung“. Einflussreicher Gründer der London Society for the Abolition of the Slave Trade und Vorkämpfer der Bewegung war Thomas Clarkson. Die Hauptinspiration für ihn war nach eigenen Angaben jedoch ein afrikanischer Muslim.
Denn lange vor der christlich geprägten Bewegung gab es bereits in Westafrika Theologen, Herrscher und Juristen, die sich mit ihrer Interpretation des Islam für ein Ende der Sklaverei einsetzten – und sie konnten sich auf keinen Geringeren als den Religionsstifter selbst, den Propheten Mohammed, berufen. Dieser Aspekt der Geschichte der Sklaverei wurde lange Zeit kaum beleuchtet.
Heute geht es um die Abschaffung von Gefängnissen
Spricht man heute von Abolitionismus, meint man meist eine Welt ohne strafende Institutionen, ohne Polizei und ohne Gefängnisse. Dazu muss man diese Denkrichtung im US-Kontext verorten und verstehen, wie einer der deutschen Hauptvertreter dieser Bewegung, der Sozialwissenschaftler und Philosoph Daniel Loick, erklärt.
Demnach wird die Masseninhaftierung in den USA als Fortsetzung der Sklaverei mit anderen Mitteln gesehen. Möchte man den Kampf gegen Sklaverei fortführen, muss man auch das Gefängnissystem bekämpfen, so die Argumentation. In den USA sitzen etwa 1,77 Millionen Menschen hinter Gittern (Stand Juni 2023) – mehr als in irgendeinem anderen Land auf der Welt. Auf 100.000 US-Einwohner kommen demnach 531 Inhaftierte. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 67. Außerdem sitzen überproportional viele Schwarze und People of Color in US-Gefängnissen.
Wer sind die Hauptvertreter dieser Bewegung?
Die Schwarzen Aktivistinnen und Sozialwissenschaftlerinnen Angela Davis und Ruth Wilson Gilmore setzen sich seit Jahrzehnten für die Abschaffung von Gefängnissen ein. Von Letzterer stammt der Slogan: „Abolitionismus setzt voraus, dass wir eine Sache ändern: nämlich alles.“ Damit bringt sie auf den Punkt, wie schwer und wie umfänglich dieses Unterfangen ist.
Daniel Loick hat gemeinsam mit der Sozialanthropologin Vanessa E. Thompson einen Sammelband zum Abolitionismus herausgegeben, der erstmals die wichtigsten Stimmen dieser internationalen Diskussion in deutscher Sprache zugänglich macht. Es handelt sich um eine umfassende Theoretisierung rassistischer staatlicher Gewalt, sei es durch Polizei, Gefängnisse oder Grenzen; allgemein also durch alle strafenden oder disziplinierenden Institutionen. Auch das Sanktionsregime von Jobcentern fällt darunter. Der Abolitionismus ist somit Theorie und Bewegung zugleich.
Denn mit der Abschaffung ist immer auch eine soziale Transformation gemeint, eine „Neuerfindung von Institutionen“, wie Loick erklärt - und zwar nicht im Sinne einer einzigen Lösung, sondern durch die Einbeziehung verschiedenster Gesellschaftsbereiche „wie zum Beispiel Wohnen, Gesundheitsversorgung, Drogenpolitik, Kampf gegen patriarchale Strukturen – und das alles steht unter dem Begriff der abolitionistischen Demokratie. Das versteht sich also als Demokratisierungsbewegung“.
Warum Gefängnisse abschaffen und nicht reformieren?
Nach Ansicht der AbolitionistInnen ist das bisherige System der Bestrafung nicht reformierbar, weil es an sich rassistisch geprägt ist. Sie verorten es dementsprechend im sogenannten Racial Capitalism, also in einer Produktionsweise, die vor allem Schwarze Menschen und People of Color benachteiligt und überausbeutet. Zudem betonen sie die rassistische und kolonialistische Geschichte staatlicher Gewaltapparate.
Vertreter dieser Denkrichtung setzen Gewalttaten in einen gesellschaftlichen Gesamtkontext. Es reicht ihrer Ansicht nach nicht, den Täter isoliert zu betrachten und dann vom Rest der Gesellschaft auszuschließen. Vielmehr müsse man an die Wurzel der Tat. Es geht um strukturelle Gewalt, die aus dem Racial Capitalism resultiert, wie Thompson erläutert.
Wie soll Gerechtigkeit hergestellt werden?
Anstatt sich an Exekutivorgane wie Polizei oder Justiz zu wenden, was vom Racial Capitalism marginalisierte und benachteiligte Gruppen ohnehin selten täten, sollten zivilgesellschaftliche Formen des Ausgleichs gesucht und gefunden werden. Abolitionisten sprechen in diesem Zusammenhang von Verantwortungsübernahme und transformativer Gerechtigkeit.
Meist sei es den Opfern wichtiger, zu wissen, dass die Täter die Verantwortung für ihre Taten übernähmen, als zu hören, dass sie für ein paar Jahre weggesperrt würden. Für Anhänger dieser Denkrichtung ist eine Freiheitsstrafe keine befriedigende Antwort auf eine Gewalttat. Es geht ihnen um community-basierte Lösungen.
Transformative Gerechtigkeit
Jeder Täter und jedes Opfer ist eingebettet in eine Community, in ein näheres Umfeld von Menschen. Das sind Freunde, Angehörige, Kollegen, Bekannte oder sonst wie mit einem Verbundene. Diese Communitys sollen nun durch Verhandlungen untereinander einen Ausgleich zwischen Opfer und Täter finden.
Eine Vorreiterrolle in diesem Zusammenhang spielte das Netzwerk radikaler Feminist*innen of Color, INCITE!. Es hat vier Grundpfeiler der Community Accountability, der kollektiven Verantwortungsübernahme, formuliert:
- Kollektive Unterstützung, Sicherheit und Selbstbestimmung für Betroffene
- Verantwortung und Verhaltensänderung des Täters
- Entwicklung der Communitys hin zu Werten und Praktiken, die gegen Gewalt und Unterdrückung gerichtet sind
- Strukturelle, politische Veränderungen der Bedingungen, die Gewalt ermöglichen
Neues Verständnis von Sicherheit
Es geht also um Verantwortung für Gewalt als kollektive Aufgabe und um Veränderung des Täters und der jeweiligen Comunitys, also letztlich der Gesellschaft an sich. Das Opfer wird von den mobilisierten Communitys unterstützt. Das bedeutet für die von Gewalt Betroffenen ein ganz neues Verständnis von Sicherheit.
Ein abolitionistisches Beispiel aus dem Sammelband von Loick und Thompson ist das Programm „Cure Violence“, in dem sogenannte Gewaltunterbrecher ausgebildet werden. Ehemalige Gang-Mitglieder sollen als Mediatoren Konflikte in Communitys identifizieren, bevor sie in Waffengewalt eskalieren – und jemand die Polizei ruft.
Welche Kritik gibt es am Abolitionismus?
Kirstin Drenkhahn ist Professorin für Strafrecht an der Freien Universität. Sie hält das Konzept „für ziemlich unrealistisch“, weil es Menschen benötige, die ihre Konflikte auf eine viel reifere, erwachsenere und mutigere Weise lösen können müssten. "Ich sehe nicht, dass das flächendeckend passieren wird."
Der Soziologe Thomas Land kritisiert, dass Abolitionisten wie Thompson und Loick das aktuelle Strafsystem zu sehr mit Identität und zu wenig mit dem Kapitalismus in einen Zusammenhang brächten. Es finde eine Überbetonung von Race im Racial Capitalism statt. Deswegen komme es zum Fehlschluss, zu glauben, dass man die Polizei abschaffen könne, ohne den Rest, also das kapitalistische System, das notwendig auf die Polizei angewiesen sei, gleich mitabzuschaffen.
Vertreter des Abolitionismus setzen ganz auf die Zivilgesellschaft. Der Staat bleibt bei diesem Modell außen vor. Wer aber kann überprüfen, ob das Verhandlungsergebnis umgesetzt wird? Wird dann notfalls nicht doch wieder eine Polizei notwendig?
Außerdem ist unklar, wie lange ein solcher Prozess transformativer Gerechtigkeit dauert und wer das Ende dieses Prozesses beschließt. Ebenso unklar ist: Bekommt der Täter eine zweite Chance, wie nach dem Absitzen der Strafe nach dem jetzigen Modell?
Eine Art Kompromiss
Thomas Galli war über 15 Jahre lang im Strafvollzug tätig, zuletzt als Leiter der JVA Zeithain in Sachsen. Heute arbeitet er als Rechtsanwalt und ist ein entschiedener Gegner des Gefängnissystems. Von ihm stammt ein Buch über die Sinnlosigkeit des Wegsperrens. Galli schlägt eine Art Kompromiss vor. Die Gerichte sollten weiterhin Urteile fällen, jedoch den Unrechtsausspruch von den Rechtsfolgen trennen.
Das Strafgericht soll nur noch einen Rahmen möglicher Maßnahmen festlegen. Ein Gremium soll dann unter Einbindung von Fachleuten, dem Täter, dem Opfer und Bürgern Maßnahmen auswählen und während der gesamten Dauer des Vollstreckungsverfahrens diese entsprechend der Entwicklung der Beteiligten anpassen.
Ist Abolitionismus ein zukunftsfähiges Konzept?
Ob man das Konzept des Abolitionismus nun gut oder schlecht findet, es regt zum Nachdenken an – über eine andere Form der Reaktion auf Gewalt, über eine, die weniger durch den Gedanken der Rache, Sühne, Schuld und Gegengewalt geprägt ist. Vielmehr soll eine bessere Welt entstehen durch eine Form des Dialogs, der Aussöhnung und der kollektiven Reaktion auf Konflikte und Gewalt. Ob das letztlich funktioniert, müsste erprobt werden.
ckr