Abrechnung nach vier Jahrzehnten

Besprochen von Richard Szklorz |
In seiner Streitschrift rechnet Peter Ambros ab mit dem offiziellen Habitus des Gedenkens an den Holocaust in Deutschland. Er wirft den Deutschen "Heuchelei" und "Selbstbetrug" vor, ihr schlechtes Gewissen sei nur eingebildet. Eine erfrischend unausgewogene Schrift.
Bescheiden kommt das Buch nicht daher: Es steht unter dem Motto "J'accuse, Frau Merkel!", Ich klage an! - frei nach Emile Zolas berühmter Streitschrift aus dem Jahre 1898. Zornig und dahingeschleudert, ein 200-Seiten-Essay, geschrieben für diesen Augenblick, mit hineingeschobenen Versatzstücken, die sich wie kleine Fragmente eines Romans lesen. Sie sind verknäult mit früheren Debattenbeiträgen, Briefen, Artikeln des Autors, mitunter schon zwanzig Jahre alt und noch immer aktuell. Die sarkastische Widmung lautet: "Für Frau Bundeskanzlerin".

Dieses Buch musste irgendwann kommen, von keinem anderen, als von diesem Autor. Peter Ambros war in den Neunzigerjahren Pressereferent der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und rechte Hand des damaligen Vorsitzenden und späteren Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski. Dadurch kam Ambros wie nur wenige andere mit dem amtlichen deutschen Gedenken an die Toten der Schoah in Berührung.

"Nach vier Jahrzehnten der Heuchelei und des Selbstbetrugs, die ich in Deutschland über mich ergehen ließ, rechne ich ab mit der Lüge der Kollektivschuld der Deutschen."

Ambros rekapituliert sein Leben als Jude unter Deutschen und zeigt den wahren Charakter des offiziellen "Gedenkens", das in Deutschland alljährlich für die Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes zelebriert wird.

Rituell gesenkte Köpfe
Sein Resümee: zu viel des Falschen! Die rituell gesenkten Köpfe, die hilflose, zur Schau gestellte Zerknirschung ist nicht ehrlich, kann es nicht sein, das Ergebnis eines, wie Ambros schreibt, "durch Infiltration eingebildeten schlechten Gewissens":

Die moralische Pflicht zur gemeinschaftlichen Scham, die der erste Bundespräsident Theodor Heuss den Deutschen auferlegte, wurde demnach zur bequemen Formel für ...

" ... all jene wendebereiten Kompromittierten mit befleckten Westen, die ihre konkrete Schuld nur zu gern im Sammelbecken der allgemeinen 'nationalen Kollektivscham' verschwinden ließen."

Warum aber der Angriff auf Angela Merkel? Weil Ambros Parallelen sieht zwischen dem mechanisch-routinierten Umgang mit den Opfern der Schoah und der Gedenkfeier für die Opfer der NSU-Terroristen. Auch hier habe die Kanzlerin den anwesenden Angehörigen der Ermordeten eine Statistenrolle zugewiesen.

"Nicht die Bestrafung der Täter ist die Priorität der Staatsspitze. Es ist eine geheuchelte Geste. Und das Erschütternde an den eisernen Gesetzen der nationalen Neurose des wortreichen Schweigens ist die notorische Blindheit auf dem rechten Auge."

Was er vorschlägt, statt der ritualisierten Scham, ist das eigentlich Naheliegende, doch ungleich Schwerere: Gespräche mit den Eltern und Großeltern. Und sollten sie nicht mehr leben, ein gezieltes Nachforschen in den Archiven, um sich selbst ein reales Bild zu machen: Was haben die eigenen Familienmitglieder während der Zeit der Hitlerei getan?

Ein Hakenkreuz mit Archiv
Auch deshalb präsentierte Ambros in der heißen Debattenphase um das Berliner Holocaust-Mahnmal einen surreal bis hintersinnig anmutenden Vorschlag: Das Gelände sollte als große Wiese gestaltet werden, in deren Mitte eine Konstruktion in Form eines kleinen Hakenkreuzes. An den Enden der vier Swastika-Arme jeweils ein Häuschen mit einem Archiv-Zugang. Dort könne der einzelne Besucher die Namen seiner Eltern, Großeltern und sonstiger Verwandter eingeben, um zu erfahren, wie diese sich verhalten haben.

"Nach Verlassen des Häuschens stünde es dem Besucher frei, einen pietätsvollen Schritt auf die Opfer dieser Geschichte zuzugehen. Es ist ein alter jüdischer Brauch, nach dem Besuch an einem Grab ein kleines Steinchen auf die Grabplatte zu legen. Die Opfer des Holocaust haben keine Gräber. Daher könnte man auf der Grasfläche neben dem 'Mahnmal' beliebig einen symbolischen Punkt wählen, auf dem jeder Besucher nach dem Ausflug in die eigene Familiengeschichte ein Steinchen niederlegen könnte."

Seine Hoffnung: Die angehäuften Steinchen würden im Laufe der Zeit zu einem großen Gedenkhügel anwachsen und das hässliche Hakenkreuzgebilde unscheinbar werden lassen.

In solchen Ausführungen schimmert das Motiv durch, aus den Deutschen möge eine normale Nation werden. Eine Phantasie, der der legitime Wunsch zugrunde liegt, er selbst könnte dann unter ihnen wie ein normaler Mensch und nicht als "der Jude" leben, der infolge des unerbittlichen Staatsgedenkens lebenslang als Beispiel des Opfers herhalten muss, ob er es will oder nicht.

Doch wie soll man sich gegen so eine Vereinnahmung wehren?

In den vergangenen zwanzig Jahren sind in der ganzen Welt gruppentherapeutische Seminare für Kinder von Schoah-Überlebenden entstanden. Sie wurden Anlaufstelle für Menschen, deren Kindheit vom Schweigen ihrer Eltern über deren Überlebenskampf in den deutschen Vernichtungslagern geprägt war. Solche Sitzungen wollten den Teilnehmern helfen, ihr Trauma, das aus dem Nichtreden der Eltern erwachsen war, begreiflicher und somit vielleicht erträglicher zu machen.

Kann ein solches Modell auch den Nachkommen jener Eltern dienen, die während der Nazizeit auf der anderen Seite des Stacheldrahts lebten und über ihr Tun oder Nichttun in dieser Zeit ihr Leben lang schwiegen?

"Dieses Schweigen übertrug die Traumatisierung auf eine weitere Generation: Für die Kinder lauerte dahinter der monströse Verdacht, dass sich ihre Eltern mehr kompromittiert haben mochten, als die Kinder bereit waren sich vorzustellen, somit das gruselige Gefühl der Möglichkeit, Sohn oder Tochter eines bestialischen Mörders zu sein."

Hier liegt eine erfrischend unausgewogene Schrift vor, die mehr ist als nur ein Debattenbeitrag.

Dem Buch kann kein Anspruch auf Vollständigkeit unterstellt werden. So findet zum Beispiel der GULAG, der andere große Massenmord im 20. Jahrhundert, nur eine Erwähnung. Wer aber sieht, wie im heutigen Russland des Wladimir Putin die Erinnerung an die Abermillionen Toten an den Rand gedrängt wurde und die Stalinzeit in nostalgischen Staatsritualen zum neuen Leben erwacht, der dürfte die offizielle deutsche Art des Gedenkens in einem etwas milderen Licht zu betrachten, als der es Autor tut.

Trotzdem: Peter Ambros persönlich und zugleich analytisch verfasste Streitschrift regt zu neuen Gedanken und Assoziationen an. Und was will man mehr von einem Buch? Man wünschte wirklich, die "Frau Bundeskanzlerin" würde es vor ihrer nächsten Gedenkfeier vielleicht doch lesen.

Cover: Peter Ambros - Das wortreiche deutsche Schweigen (Argument Verlag)
Cover: Peter Ambros - Das wortreiche deutsche Schweigen© Argument Verlag
Peter Ambros: Das wortreiche deutsche Schweigen
Argument Verlag, Hamburg 2013
192 Seiten, 18 Euro


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