Hitler und Röhm

Kein Putsch, sondern terroristischer Massenmord

06:56 Minuten
Das Buchcover zeigt NS-Führungsfiguren Göring, Röhm und Hitler und im Hintergrund einen Fotografen. Darüber der Buchtitel.
© Molden Verlag

Longerich, Peter

Abrechnung. Hitler, Röhm und die Morde vom 30. Juni 1934Molden, Wien 2024

207 Seiten

28,00 Euro

Von Otto Langels · 24.06.2024
Audio herunterladen
Ende Juni 1934 begingen Gestapo und SS auf Anordnung Hitlers einen Massenmord an SA-Führern und konservativen Oppositionellen. Ein neues Buch des NS-Experten Peter Longerich arbeitet die Ereignisse auf, die das NS-Regime als "Röhm-Putsch" verschleierte.
1932 sprach Ernst Röhm, Führer der SA, auf einer Kundgebung über den, wie er überzeugt war, unaufhaltsamen Vormarsch seiner „Sturmabteilung“: „Die SA ist zu einem Felsblock geworden, den nichts auf der Welt mehr erschüttern kann. Wer glaubt, sie aus dem politischen Leben ausschalten zu können, beweist damit, dass er von dem Geist und dem Wesen und von der wuchtigen Kraft dieses braunen Heeres keine Ahnung hat.“
Die in brauen Hemden auftretende SA, 1920 als Ordner- und Schlägertruppe der NSDAP gegründet, war Anfang der 1930er-Jahre tatsächlich zu einer einflussreichen paramilitärischen Massenorganisation geworden. Zählte sie im Herbst 1930 noch 60.000 Mann, waren es drei Jahre später bereits über 400.000 und Mitte 1934 bis zu vier Millionen, darunter ehemalige Frontkämpfer und Soldaten sowie viele Arbeitslose, die sich vom Nationalsozialismus Posten und Privilegien erhofften.
An der Spitze stand Ernst Röhm, ein alter Kampfgefährte Adolf Hitlers, ein Verächter bürgerlicher Konventionen, so der Historiker Peter Longerich: „Röhm hat sich als Landsknecht-Typen gesehen, er führte ein unkonventionelles, ungebundenes Leben. Er machte seinen Leuten keine großen Vorschriften, wie sie sich benehmen sollten, ob sie viel oder wenig tranken, rauchten und welche Freundinnen sie hatten.“

Röhm wollte die "zweite Revolution"

Longerich, ein durch zahlreiche Veröffentlichungen bekannter NS-Experte, beschränkt sich in seiner neuen komprimierten Darstellung der Ereignisse rund um den 30. Juni 1934 auf wesentliche Aspekte, er schildert die Vorgeschichte und die Gründe für die blutige Abrechnung Hitlers mit der SA-Spitze.
Deutschland befand sich Anfang 1934 in einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise. Hitler erklärte die nationalsozialistische Revolution für beendet und suchte den Ausgleich mit der Reichswehr und den traditionellen Eliten, während Röhm eine „zweite Revolution“ forderte und die SA zu einer Volksmiliz und damit als Konkurrenz zur Reichswehr ausbauen wollte.
Hitler geriet aber noch von anderer Seite in Bedrängnis. Um den Vizekanzler Franz von Papen formierte sich eine konservative Opposition, die die Macht des NS-Regimes beschneiden wollte. Im Juni 1934 kam Hitler zu dem Entschluss, gleichzeitig gegen die SA-Führung und die rechtskonservativen Kräfte vorzugehen.

Blutige Abrechnung mit 90 Toten

Am Morgen des 30. Juni begann die blutige Abrechnung, der an verschiedenen Orten in den folgenden Tagen rund 90 Menschen zum Opfer fielen; unter anderem am Tegernsee, wo sich die SA-Führung um Röhm aufhielt, sowie in Berlin, wo der frühere Reichskanzler von Schleicher und seine Frau sowie Edgar Jung, ein Vertrauter Papens, und der führende Katholik Erich Klausener ermordet wurden.
Zugleich nutzte die NS-Führung die Gelegenheit, um alte Rechnungen zu begleichen. Gregor Strasser, einstiger Exponent des „sozialistischen“ Flügels in der NSDAP, wurde ebenso umgebracht wie Gustav von Kahr, der Hitler 1923 beim Putsch in München in den Rücken gefallen war.
Aber es traf auch, wie Longerich unter Auswertung zahlreicher Quellen ausführlich beschreibt, weniger bekannte Personen; etwa den Obersturmbannführer Kurt Mosert von der SA-Standarte Torgau: „Am 2. Juli wurde er in das KZ Lichtenburg eingeliefert und dort am folgenden Tag, angeblich auf der Flucht, erschossen. Hintergrund war die Tatsache, dass es zwischen Angehörigen von Moserts Standarte und den SS-Wachen des KZ Lichtenburg, das im Gebiet der Standarte lag, immer wieder zu persönlichen Auseinandersetzungen und Zusammenstößen gekommen war.“

Im Gefängnis München-Stadelheim erschossen

Ernst Röhm, der es abgelehnt hatte, Suizid zu begehen, wurde am 1. Juli von SS-Männern im Gefängnis München-Stadelheim erschossen. Die als „Nacht der langen Messer“ bekannt gewordene Aktion inszenierte die NS-Propaganda als „Röhm-Putsch“, um das ungesetzliche Vorgehen zu legitimieren. Zugleich wurden Informationen über die längst bekannte Homosexualität Röhms und anderer SA-Männer gestreut, um für moralische Entrüstung in der Bevölkerung zu sorgen.
Am 3. Juli, also nachträglich, ließ Hitler die Morde durch ein im Kabinett erlassenes Gesetz als „Staatsnotwehr“ für rechtens erklären. Peter Longerich nennt die Mordaktion vom 30. Juni 1934 zu Recht ein „Zentralereignis“ in der Geschichte des Dritten Reiches: „Hitler konnte sich nun jederzeit aus Gründen der ‚Staatsnotwehr‘ über jedwedes geltende Recht hinwegsetzen und vermeintliche oder tatsächliche Gegner ohne Weiteres liquidieren lassen. Von nun an verfügte er also über das Machtinstrument offener und unbeschränkter terroristischer Gewalt.“
Longerich präsentiert keine neuen Erkenntnisse, die etwa über die grundlegende Darstellung von Daniel Siemens über die Sturmabteilung hinausgehen. Aber in einem lesenswerten Buch schildert er anschaulich die Konflikte um die SA, er skizziert die politischen Entwicklungslinien und bezeichnet den sogenannten „Röhm-Putsch“ als das, was er war: ein terroristischer Massenmord.
Mehr zum Thema Nationalsozialismus