Abriss oder Rekonstruktion?

Von Christian Berndt |
Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, erbaut Ende des 19. Jahrhunderts, war immer wieder Gegenstand erbitterter Debatten. Mitte der 20er-Jahre forderten Stadtplaner ihren Abriss, weil sie dem wachsenden Autoverkehr im Weg stehe. Am heftigsten aber wurde in der Nachkriegszeit um die durch Bombenangriffe schwer beschädigte Gedächtniskirche gestritten.
"Ich kann Ihnen verraten, dass der Bau der Kirche in Berlin mir also meinen Herzinfarkt beigebracht hat. Denn stellen Sie sich vor, diese Kirche wäre also von Berlin nicht akzeptiert worden - die Gefahr hat doch sehr nahe gelegen - dann wäre doch eine Katastrophe geschehen, die ich allein zu verantworten gehabt hätte."
Diese Sorge des Architekten Egon Eiermann, die er im Rückblick 1968 schildert, war tatsächlich sehr berechtigt. Seit 1947 wird erbittert darum gestritten, was mit der im Krieg schwer beschädigten Kirche passieren soll. Ob Neubau oder Wiederaufbau, diese Frage führt in der Nachkriegszeit zum vielleicht heftigsten Architekturstreit der deutschen Geschichte. Die Gedächtniskirche ist ein Symbol Berlins. 1895 eingeweiht, entwickelt sich die zum Gedenken an Kaiser Wilhelm I. erbaute Kirche zum Anziehungspunkt des aufstrebenden Berliner Westens.
In den 20er-Jahren wird die mondäne Gegend um die Gedächtniskirche - Kurfürstendamm und Bahnhof Zoo - zum neuen Zentrum der Reichshauptstadt. 35.000 Autos verkehren hier täglich. Damit wird die Kirche zum Verkehrshindernis, es wird öffentlich über einen Abriss diskutiert. Doch erst nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg gerät ihre Existenz ernsthaft in Frage, sogar Pfarrer sehen in ihr zunächst ein Symbol des alten autoritären Geistes und fordern ihre Beseitigung. Aber bald wird die Kirche zum Symbol des Neuanfangs, wie eine Rundfunk-Reportage 1947 schildert.

"Und wenn es auch heute nur die Ruinen der Gedächtniskirche sind, so ist sie doch wieder ein Gradmesser unseres Berliner Großstadtlebens. Drüben bei Kranzler fehlen die alt vertrauten Tische und Stühle im Freien. Aber ein bisschen weiter hinten, da erblüht schon wieder ein munterer Kaffeehausbetrieb. Es ist nun endlich wieder Frühling in Berlin, hier rund um die Gedächtniskirche, dem Kurfürstendamm und überall."

Marlene Dietrich: "In den Ruinen von Berlin, fangen die Blumen wieder an zu blühn."
1947 gründet sich ein Kuratorium zum Wiederaufbau der Kirche. Der christlich-liberale Senat unterstützt den Entwurf für eine Rekonstruktion. Doch der Wahlsieg der SPD in Berlin 1954 stoppt den schon begonnenen Bau, nach langen Diskussionen ruft der neue Senat einen Wettbewerb aus. Sieger wird 1957 Egon Eiermann, einer der prägenden Nachkriegsarchitekten. Mit seinen modern-klaren, leicht-transparenten Bauten setzt er sich bewusst von der monumentalen Architektur der Nazi-Diktatur ab. Sein Plan sieht vor, die Ruine vollständig abzureißen und einen Neubau zu errichten. Der Senat ist zufrieden, aber - man hat nicht mit der Bevölkerung gerechnet. Ein Sturm der Entrüstung fegt über die Stadt, in Umfragen spricht sich eine große Mehrheit der Berliner für die alte Kirche aus.

"Wenn sie soll abgerissen werden, hätte sie schon längst abgerissen sein und nicht erst jetzt, immer in der Hoffnung, wir kriegen sie wieder."

"Um Gottes Willen, das alte Stück nicht wegnehmen. Wenn es sein muss, verkehrstechnisch, sehe ich ein. Aber dann nie diesen alten hässlichen Klotz, den sie uns da hinbauen wollen."

"Das sieht doch gar nicht aus wie eine Kirche."

Nach endlosen Debatten muss Eiermann zähneknirschend einen neuen Entwurf erarbeiten. Der sieht zwar immer noch den Abriss des Kirchenschiffs vor, aber die Ruine des Glockenturms soll inmitten eines Neubaus stehen bleiben. Der Baugeschichtler Johannes Cramer:

"Das, was bei der Gedächtniskirche passiert ist, ist letzten Endes der Kompromiss. Auf der einen Seite modern zu sein - mit moderner Architektur, das war damals ein Bedürfnis, und auf der anderen Seite die Geschichte noch in Erinnerung zu behalten als Fragment, auch als gebrochenes Fragment, als Zeichen für eine gebrochene Geschichte."
Am 9. Mai 1959 wird der Grundstein für den Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche gelegt. Als der Bau 1961 fertig ist, hat er mit der alten Kirche nicht mehr viel zu tun, er besteht aus drei modernen Baukörpern, zwischen ihnen die Ruine des alten Turms. Es ist ganz und gar nicht das, was sich viele Berliner unter einem Wiederaufbau ihrer Kirche vorgestellt haben. Aber das Erstaunliche ist: Der Bau mit den charakteristischen blau schimmernden Mosaikfenstern wird akzeptiert und entwickelt sich zum neuen Wahrzeichen West-Berlins. Der Kompromiss hat sich als Glücksfall erwiesen. Und obwohl sich nach dem Fall der Mauer 1989 das Zentrum wieder in den Osten der Hauptstadt verlagert hat, ist der Breitscheidtplatz um die Gedächtniskirche einer der lebendigsten Plätze Berlins geblieben.