Absage an ein vereintes Europa?

Warum die Linke die Nation braucht

Ein Mann greift sich verzweifelt an den Kopf, über ihm schwebt der Kranz mit den 12 EU-Sternen (Illustration).
Würden die Linken wirklich Politik für die Mehrheit in diesem Land machen, dann müssten sie zuallererst für den Nationalstaat eintreten, findet Klaus-Rüdiger Mai. © imago stock&people / Jonathan McHugh
Von Klaus-Rüdiger Mai · 09.02.2018
An ihrem Verhältnis zum Nationalstaat entscheidet sich die Zukunft der Linken, ist der Historiker Klaus-Rüdiger Mai überzeugt. Denn nicht jeder Nationalstaat sei ein Sozialstaat, aber jeder Sozialstaat ein Nationalstaat.
Der Nationalstaat hat hierzulande einen schlechten Ruf. Die deutschen Eliten verfolgen das Ziel seiner schrittweisen Abschaffung und die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Als Hauptgrund führen diejenigen an, die sich für Rationalisten halten und im Bündnis mit neoliberalen Ökonomen stehen, dass nur ein geeintes Europa in der Globalisierung gegen China oder die USA bestehen kann. Europa also als Notgemeinschaft in Zeiten der Globalisierung, der man angeblich ausgeliefert ist.
Für die Ideologen hingegen muss die Geschichte herhalten, denn der Zusammenschluss Europas sei die historische Lehre aus zwei Weltkriegen. Ein geeintes Europa würde mörderische Kriege zumindest in Europa verhindern.

Abschied der Linken von der sozialen Frage

Das dritte Argument, das die Träume der Linken beherrscht, ist seiner Herkunft nach kaum noch zu erkennen. Es entstammt dem Internationalismus der Arbeiterbewegung. Die Linken haben den Begriff des Proletariers in dem Slogan "Proletarier aller Länder vereinigt euch" durch den des Europäers ersetzt, weil sie sich von der sozialen Frage verabschiedet und den urbanen Eliten zugewandt haben; manche von ihnen bezeichnen ihre eigene Klientel auch schon als "Pack".
Alle drei Argumente sind nicht stichhaltig, denn einerseits wird auf Grund unterschiedlicher Kulturen und sozialer Systeme kein einheitlicher Wirtschafts- und Sozialraum entstehen, außer man richtet einen Zwangsraum mit einem System fortwährender Transfers ein. Dieses wird aber eines Tages implodieren und spätestens dann zu großen Konflikten und Verteilungskämpfen in Europa führen; die Friedensrendite des geeinten Europa bliebe damit ein unerfüllter Wunschtraum.
Andererseits treibt eine dauerhafte Minderheitenpolitik einer Elite zur Nationalisierung der Mehrheit. Denn die meisten Bürger wollen zuallererst einen funktionierenden Staat, der an jedem Ort im betreffenden Land seine Hoheitsrechte durchzusetzen vermag - was an den Grenzen beginnt -, und der in der Lage ist, eine solidarische Absicherung seiner Bürger gerecht zu organisieren. Milton Friedman sagt: Man kann einen Sozialstaat haben, und man kann offene Grenzen haben, aber man kann nicht beides zugleich haben.

Nationalstaat als Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit

Nicht jeder Nationalstaat ist ein Sozialstaat, aber jeder Sozialstaat ist ein Nationalstaat. Würden die Linken wirklich Politik für die Mehrheit in diesem Land machen, dann müssten sie zuallererst für den Nationalstaat eintreten, der die Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit bildet. Insofern stellt der Nationalstaat eigentlich ein linkes Projekt dar. An ihrem Verhältnis zum Nationalstaat entscheidet sich die Zukunft der Linken.
Wir müssen daher jenseits der Schreckgespenster von Nationalismus und Abschottung und jenseits der Blütenträume von der Auflösung der Nationalstaaten in einem europäischen Superstaat, endlich darüber nachzudenken, wie eine faire europäische Zusammenarbeit auf der Basis der Nationalstaaten funktionieren kann.

Der globalisierte Mensch ist ein Sklave

Politisch, sozial, kulturell, auch wirtschaftlich wird Europa nur eine stabile Zukunft in demokratisch basierten Nationalstaaten haben, deren Bürger die Art und Weise der europäischen Zusammenarbeit demokratisch mitbestimmen. Es stellt doch einen unauflösbaren Widerspruch dar, dass ausgerechnet diejenigen, die stets von Vielfalt reden, in Europa eine Einheit etablieren wollen, die jegliche Vielfalt planiert.
Die Kraft und die Größe Europas kommt aus den unterschiedlichen Kulturen, aus denen sich die Nationen als soziale und demokratische Institutionen gebildet haben. Diese Vielfalt Europas bedingt die Freiheit, denn nur der in seiner Region lebende Mensch kann wirklich frei sein. Der globalisierte Mensch ist lediglich ein Sklave internationaler Finanz- und Wirtschaftsinteressen. Höchste Zeit, eine positive Bestimmung des Nationalstaates und der Nation vorzunehmen.

Klaus-Rüdiger Mai, geboren 1963, Dr. phil., Schriftsteller und Historiker, verfasste historische Sachbücher, Biografien und Essays, sowie historische Romane. Sein Spezialgebiet ist die europäische Geschichte und Gegenwart. Zuletzt erschienen von ihm der Essay "Gehört Luther zu Deutschland" und die Biografie "Gutenberg. Der Mann, der die Welt veränderte".

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