Abschied von alten Klischees und Überlieferungen

Von Kersten Knipp |
Die Mittelmeerunion, die am Wochenende in Paris gegründet wurde, verfolgt vornehmlich wirtschaftliche Ziele. Doch einige arabische Künstler und Intellektuelle hoffen, dass sie auch das kulturelle Verständnis der Menschen füreinander fördern könnte. Zunächst gilt es jedoch, ein paar Missverständnisse auszuräumen.
"Zu Zeiten des Kolonialismus haben uns die europäischen Künstler als Wilde charakterisiert. Wir galten als Orientalen. Es hat uns große Mühe gekostet, dieses Klischee zu überwinden, das Klischee des Beduinen auf seinem Kamel, der eine unverständliche Sprache spricht. Dieses Klischee wurde nachher in modifizierter Form weiter gepflegt, etwa in Filmen wie 'Casablanca'. Mit diesem Bild schlagen wir uns noch heute herum."

Klischees und Bilder, die weit in die Vergangenheit zurückreichen und die Sichtweise der Europäer auf die Araber bestimmten. Am Anfang der west-östlichen Beziehungen, so der algerische Literaturwissenschaftler Mourad Yelles, stand die Dominanz der europäischen Kultur. Aber nicht nur sie. Auch die Wirtschaftskraft des Westens, so die tunesische Soziologin Sophie Bessis, habe die Menschen am anderen Ufer des Mittelmeers geprägt - und zwar auf durchaus paradoxe Weise.

"Die meisten Menschen des Südens haben das westliche Lebensmodell verinnerlicht. Dieses Modell wird einerseits kritisiert. Die Menschen sagen, der Westen hat uns nicht vorzuschreiben, wie wir uns zu verhalten haben. Gleichzeitig fasziniert der Westen in seiner reichen Arroganz diese Menschen aber auch. Diese Faszination wird nur ganz allmählich schwinden. Das hängt auch davon ab, wann die Menschen des Westens aufhören, sich als Modell für alle anderen aufzuführen."

Doch solange das wirtschaftliche Ungleichgewicht fortbesteht, meint die marokkanische Juristin Malika Benradi, so lange wird auch jenes Phänomen weiter bestehen, dass den Westen heute so irritiert: der religiöse Fundamentalismus.

"Das wichtigste Problem in den Gesellschaften des Südens ist wirtschaftlicher Art. Es ist auf das engste mit dem Problem des Fundamentalismus verknüpft. Denn die Fundamentalisten entstammen den verarmten unteren Klassen. Über den Islam wissen sie meistens so gut wie überhaupt nichts. Aber der Fundamentalismus zieht auch all jene an, die zwar einen Universitätsabschluss haben, aber trotzdem keine Arbeit finden. Auch sie sind empfänglich für Intoleranz und Extremismus."

Berufen können sich die Extremisten beider Regionen - die europäischen Rechtsextremen ebenso wie die islamistischen Fundamentalisten - auf eine Vorstellung von Identität, die mit der Realität nicht viel zu tun hat. Vielleicht gerade darum, meint Bessis, vermag dieses Modell den Norden und den Süden so erfolgreich gegeneinander auszuspielen.

"Sehr viele Extremisten - europäische und arabische - beschreiben Identität als ein Phänomen, das außerhalb der Geschichte liege. Das ist natürlich falsch, und führt zu einer Haltung der Verweigerung. Gleichzeitig muss man sich aber auch gegen die vorherrschende Kulturindustrie wehren, eine Industrie, die aus ökonomischen Gründen Interessen daran hat, kulturelle Unterschiede so weit wie möglich zu nivellieren. Dagegen zu reden ist aber etwas anderes als auf einer angeblich unveränderlichen Identität zu beharren. Wer das tut, fördert nur die These vom Zusammenprall der Kulturen."

Die These vom Zusammenprall der Kultur ist in beiden Regionen weiterhin populär, vor allem darum wohl, weil sie so schlicht ist, keine vertieftes Verständnis, ja nicht einmal eine differenzierte Sichtweise erfordert. Gerade auf die käme es aber an, meint Malika Benradi. Um ihr gegenseitiges Misstrauen zu überwinden, sollten die westliche und die arabische Welt sich von den alten Klischees und Überlieferungen befreien, unbefangen und ohne Vorurteile aufeinander zugehen.

"Ich glaube, man muss sich von einer verallgemeinernden Sicht auf den Islam verabschieden. Man sollte den Islam nicht weiterhin mit dem Terrorismus verwechseln und ihn auch nicht für das demokratische Defizit verantwortlich machen. Der Norden muss die Probleme des Südens verstehen und der Süden die des Nordens. Die Gesellschaften müssen sich füreinander öffnen, aufeinander zugehen, um dann einander zuzuhören."

Wenn dies gelänge, könnte sich das Verhältnis zwischen Orient und Okzident, den nördlichen und den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers erheblich verbessern. Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jalloun, der in der westlichen wie der arabischen Kultur gleichermaßen zu Hause ist, sieht durchaus die trennenden Elemente der beiden Regionen. Aber sie, findet er, müssen deren Verhältnis nicht auf alle Zeiten bestimmen.. Die derzeitigen Annäherungs- und Kooperationsprojekte heben für ihn die kulturellen Unterschiede zwar nicht auf - tragen aber dazu bei, dass die Menschen an ihnen nicht verzweifeln, sondern weiter aufeinander zugehen.

"Die Begegnung zwischen Orient und Okzident erleben viele Reisende zunächst als Schock, als kulturellen und sprachlichen Schock, als Zusammenprall der Traditionen. Doch die jüngsten Bemühungen um Annäherung könnten dazu beitragen, dass sich die Menschen der arabischen und der westlichen Welt etwas besser kennenlernen und ihr Misstrauen überwinden. Wir Schriftsteller machen uns zudem dafür stark, einander unsere Kultur vorzustellen, zu zeigen, an welchen Traditionen und Werten wir uns jeweils orientieren. Wir hoffen, dass der Kontakt zwischen Nord und Süd etwas Normales wird und nicht nur als Problem gesehen wird."