Abschied von der Lichtgestalt

Von Corinna Emundts |
Angela Merkel, so heißt es gerne und schon lange, wurde als Politikerin und Führungskraft immer unterschätzt. Sie hat sich diese Erfahrung – unterschätzt zu werden – durchaus häufig zu nutze gemacht, um ihre Ziele zu erreichen und Machtkämpfe zu gewinnen.
Dann kam die durchaus für alle Seiten unerwartete, wenn auch von ihr lange geplante Kanzlerschaft – und die Kommentare sind binnen zweier Jahre gänzlich umgekippt. Man schreibt ihr jetzt sogar Strahlkraft, ein gewisses Charisma zu, mancher hält sie für eine geniale Strippenzieherin. Nach dem Rückzug von Franz Müntefering jedoch lässt sich eines getrost sagen: Sie wird inzwischen überschätzt.

Wie konnte sie es soweit kommen lassen und zusehen, wie ihr sozialdemokratisches Alter Ego den Rückzug aus dem schwierigen Regierungsprojekt von CDU und SPD antritt? Und warum hat sie ihn nicht aufgehalten und riskiert damit die Stabilität des Bündnisses? Schließlich hatte Merkel in Müntefering einen der wenigen ganz entschiedenen Mitstreiter, der Regierungsbeschlüsse auch gegen die eigene Partei verteidigte - und trotz Meinungsverschiedenheiten beim Mindestlohn bis zum Schluss glaubwürdig die Politikfähigkeit dieser Koalition vertrat.

Merkel wird in zweierlei Hinsicht inzwischen überschätzt. Sie, die ihre Partei effizient und mit immer unterschätztem Netzwerk per SMS regierte, hat das Räderwerk der Koalition längst nicht vergleichbar im Griff. Sie ist oft mehr Getriebene als Treiberin. Sie lässt politische Entscheidungen häufig lange unkommentiert laufen, weil sie zu schwach ist, sich einzuschalten. Sei es wegen der Eigeninteressen der SPD oder den Prioritäten der CDU-Ministerpräsidenten, gar wegen süddeutsch-bayerischer Sonderwünsche, die sie nicht immer ignorieren kann, auch wenn sie selbst anderer Meinung ist. In dieser Situation Richtlinienkompetenz auszuüben, kostet immer mehr Kraft.

Zudem hat die neu hinzugewonnene Rolle der sich um den Globus sorgenden und reisenden Weltpolitikerin ihren Preis. Kürzlich von einem US-Magazin zur mächtigsten Frau der Welt gekürt, gefällt sich Angela Merkel sichtlich als Lobbyistin für Klimaschutz und Menschenrechte. Eine angenehme und zugleich wichtige Aufgabe, keine Frage. Sie hat statt zweier erster mühsamer Lehrjahre zwei glamouröse Kanzlerjahre inszeniert, in der sie scheinbar immer präsidialer als Kanzlerin aller Deutschen draußen in der Welt agierte. Das holt sie jetzt ein. Zwar hatte sie auch bei den letzten sachlichen Differenzen zu ihrem Vizekanzler immer persönlichen Kontakt. Doch zwischen George Bushs Ranch in Texas, Afghanistan und Indien ging ihr Gespür für die innere Verfasstheit der Koalition und auch gegenüber dem Koalitionspartner verloren. Das aber müsste sie haben, schon um ihres Selbstschutzes willen. Eine Große Koalition, die an der SPD zerbricht, wird immer auch mit ihr Scheitern bedeuten.

Hatten sie die Verhandlungsmisserfolge von SPD und CDU etwa bei der Gesundheitsreform irgendwie nur gestreift, ohne dass das Desaster länger als Makel länger an ihr haften blieb, wird nun Münteferings Bruch mit der Koalition für sie zum Testfall, ob sie ihr Geschäft wirklich versteht – und vor allem, wer sie wirklich ist: Kanzlerin einer unter Handlungs- und Reformdruck stehenden gemeinsam agierenden Koalition oder eben doch nur Strategin, die sich ihrer Partei, den nächsten Wahlen und ihrem eigenen Verbleib im Kanzleramt verschrieben hat. Sie muss sich entscheiden. Beides ist möglich. Das Erwartbare wäre letzteres. Dann aber könnte es ganz schnell gehen – und sie hat bald ihr mühsam ab 2003 aufgebautes Profil einer in langen Zeitlinien denkenden Reformerin gänzlich verloren. Vielleicht hofft sie, es im Falle einer nächsten für sie kommoderen Koalition dann wiederbeleben zu können. Naiv, denn Profile lassen sich nicht beliebig wechseln wie Hosenanzüge.

Man möge uns verschonen mit neuesten Zuschreibungen der Kanzlerin als mütterlich-verständnisvolle, in alle Ministerköpfe hineinhorchende Nestpflegerin, die nun in den Zwei-Jahresbilanzen auftauchen. Das ist sie nicht, auch da wird sie überschätzt. An der Causa Müntefering wird deutlich, dass sie keine Übermutter der Koalition ist, die sich prioritär ums gemeinsame Wohl sorgt. Sie hat den Rücktritt schnell weggesteckt, weil ihr natürlich nur recht ist, wenn sich die SPD jetzt auf noch mehr Machtachsen untereinander verständigen muss, weil Vizekanzler und Arbeitsminister nicht mehr eine, sondern zwei Personen sind und das Verhältnis der Regierenden zum Parteichef in Mainz auch nicht einfacher wird.

Die Schwäche der anderen kommt der Politikerin Angela Merkel gelegen – man sollte das nicht unterschätzen.

Corinna Emundts ist politische Journalistin in Berlin, geb. 1970, schreibt unter anderem für die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" und "Zeit online" aus Berlin. Die Politikjournalistin (Theodor-Wolff-Preisträgerin 1995) hat auch für die "Süddeutsche Zeitung", die "Frankfurter Rundschau", "Die Woche" und andere Blätter gearbeitet.