Abschluss eines epochalen Geschichtswerks
Mit der Vorlage des fünften Bandes hat Hans-Ulrich Wehler seine "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" abgeschlossen. Auf insgesamt 4800 Seiten analysiert der Historiker die Entwicklung Deutschlands. Band 5 umfasst die Jahre 1949 bis 1990.
Als der Historiker Hans-Ulrich Wehler vor einem Vierteljahrhundert begann, seine "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" zu schreiben, da glaubte er noch, so teilt er nun seinen Lesern mit, es sei mit einem Band abgetan. Am Ende sind es fünf voluminöse Bücher geworden, konzentrierte 4800 Seiten über das Deutschland der Jahre zwischen 1700 und 1990. Drei Jahrhunderte voller Irrtümer und Tragödien, voller geistiger, wissenschaftlicher und ökonomischer Triumphe und in den zwölf Jahren des Dritten Reiches kaum noch vorstellbarer Verbrechen. Wehler ist einer der führenden deutschen Vertreter, die Geschichte nicht in ihren Schlachten, politischen Ränkespielen oder in der Beschreibung ihrer Täter darstellen, sondern mit akribischer Sorgfalt den Entwicklungen von Wirtschaft und Kultur, Herrschaftsstrukturen und Sozialer Ungleichheit nachspüren. Das sind, so schreibt Wehler, die vier maßgeblichen Achsen der gesellschaftlichen Entwicklung. Diesem Konzept ist er auch in seinem jetzt erschienenen fünften und letzten Band treu geblieben. Er umfasst die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR in den Jahren von 1949 bis 1990.
Auch in diesem Band zeigt Wehler, wie ungemein spannend Gesellschaftsgeschichte sein kann. Sein Blick auf die beiden Deutschlands, die – ob gewollt oder nicht – das Erbe eines Höllenreiches antreten mussten, ist in seiner Klarsichtigkeit von bestechender analytischer Kraft. Die politischen Rahmenbedingungen, die Bevölkerungsgeschichte, die Entwicklungsprozesse der Wirtschaft, der scharfe Blick auf das soziale Gefälle – Wehler gelingt es auf den ersten 250 Seiten in faszinierender Weise, die Geschichte der beiden Deutschland darzustellen. Hier wird nicht über das, was war, spekuliert, hier verliert sich der Historiker nicht in
ideologischen Deutungen und parteilichen Erklärungen. Wehler lässt Zahlen sprechen, räumt mit mancher Legende auf, vermittelt dem Leser auf überzeugende Weise, mit welchen Verdrängungen die Alltagspolitik auch in diesen Jahrzehnten vielfach die Wirklichkeit aus den Augen verloren hat.
Trotzdem ist es mit Blick auf die letzten gut hundert Jahre deutscher Geschichte ein bemerkenswertes Fazit, das der Historiker ziehen kann. Das "kurze Jahrhundert", das nach Wehler mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges beginnt und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres bis zur Elbe reichenden Imperiums im Jahre 1990 endet, hält für die Deutschen ein Happy end bereit.
"Wohin man immer auch in der westlichen Welt blickt, hat sich nirgendwo ein derartiger Wirbel der Herrschaftsformen ereignet wie im deutschsprachigen Mitteleuropa, schließlich auch im Gehäuse des deutschen Nationalstaates von 1871. Der politischen Mentalität seiner Bevölkerung wurden dadurch traumatische Verletzungen zugefügt und enorme Anpassungsleistungen abverlangt. Es grenzt schon an ein kleines Wunder, dass sich insbesondere über die letzten hundert Jahre hinweg eine regenerationsfähige politische Grundsubstanz erhalten hat, die trotz zweier Weltkriege und zweier Diktaturen den Auf- und Ausbau eines demokratischen Gemeinwesens ermöglichte."
Warum die Deutschen dann doch noch zu soliden Demokraten wurden und sich nach 1945 im Westteil des geteilten Landes nicht das Drama der ersten deutschen Republik wiederholte, das hat viele Gründe. Nicht zuletzt aber ist es die egoistische Klugheit der Amerikaner und die sich durch glückliche weltpolitische Fügungen so rasch erholende Wirtschaftskraft gewesen, die für den weltweit bewunderten politischen und materiellen Wiederaufstieg der Westdeutschen verantwortlich war. Acht Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten Deutschlands und aus Osteuropa strömten nach 1945 ins Land, bald folgen rund drei Millionen Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone und aus der DDR. Und trotz der noch viele Jahre sichtbaren Wohnungs- und Versorgungsnot und zunächst hoher Arbeitslosigkeit bleiben radikale Ausbrüche, wie sie die politische Szene in der Weimarer Republik bestimmten, aus.
"Es gehört zu den nachhaltig begünstigenden Entwicklungsbedingungen der Bundesrepublik, dass in den Nachkriegsjahren wegen der Erfahrungen mit der Führerdiktatur eine neue charismatische Herrschaft ganz und gar unattraktiv wirkte. Trotz aller Belastungen gelang es, die durchaus existentielle Krise der Kriegsfolgen – und eine solche Krise ist nun einmal die conditio sine qua non für den Aufstieg eines Charismatikers – im Grunde verblüffend schnell zu überwinden."
Bald dann, als die Bundesrepublik zu einer Wirtschaftsmacht aufgestiegen ist und die eigene Bevölkerung nicht mehr ausreicht, die Forderungen der Industrie nach Arbeitskräften zu befriedigen, holen die Westdeutschen die Gastarbeiter ins Land. Bis in unsere Tage hinein verschließt die Politik vor dem, was sich da bevölkerungspolitisch entwickelte, die Augen. Die Bundesrepublik ist – mit all ihren kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen - ein Einwanderungsland geworden
"Im Gesamteffekt weist die Bundesrepublik zwischen 1950 und 2000 - in relativer Größenordnung - die weltweit höchsten Zuwanderungsraten auf. Um 1990 besaß sie - erneut relativ - mehr im Ausland geborene Einwohner als die USA. In den ersten vierzig Jahren ihrer staatlichen Existenz übertraf sie damit den klassischen Einwanderungsrekord, den die ´New Immigration` in die Vereinigten Staaten zwischen 1910 und 1913 bisher markiert hatte."
Generell gilt für Wehlers Darstellung, dass der Leser auf verblüffend viele politische Details der bundesrepublikanischen Entwicklungen stößt, die nicht nur von Fehlentscheidungen, sondern auch von tief sitzenden Verweigerungen der Politik berichten, rational zu handeln. Insofern triumphiert hier die gesellschaftsgeschichtliche Darstellung. Zahlen und Fakten, die vorurteilslose Beschreibung von Strukturen und Institutionen sind unbestechlicher als das historische Schwadronieren.
"Die grenzenlose Subventionierung der Landwirtschaft durch den agrarpolitischen Interventionismus und Protektionismus hat sich, je länger desto mehr auf das Ganze gesehen, als eine grandiose Fehlinvestition zugunsten einer stetig schrumpfenden, hoch privilegierten Minderheit erwiesen, während die Zukunftssicherung des Landes durch die entschlossene Förderung etwa von Bildung und Wissenschaft – sowohl im Schul- als auch im Universitätssystem fiel die Bundesrepublik in das untere Drittel der westlichen Industrieländer ab – blindlings vernachlässigt wurde."
Seit den achtziger Jahren favorisieren führende Köpfe der Sozialwissenschaft neue Begriffe, die den Wandel der westlichen Gesellschaften deuten sollen.
An die Stelle der Klassen treten hier "Individualisierung und Pluralisierung, Lebensstil und Milieu". Für Wehler sind diese Diskussionsbeiträge nicht mehr und nicht weniger als ein Wegdifferenzieren der harten Strukturen sozialer Ungleichheit. Er schreibt im Epilog:
"Überall besteht Soziale Ungleichheit fort. Deshalb ist die Behauptung verblüffend realitätsblind, dass in der Bundesrepublik keine Unterschichten mehr existierten. Denn es gibt diese Unterklassen genauso wie die Oberklassen in der Wirtschaft, der akademischen Intelligenz und dem Staatsapparat. Doch im Vergleich mit früheren Zeiten haben diese empirisch unleugbaren Disparitäten bisher keinen feindselig geführten Klassenkampf ausgelöst."
Die DDR, die, wie Wehler zu Recht meint, "unter extrem unterschiedlichen Konstellationen antreten" musste, findet in seiner Darstellung einen erheblich geringeren Platz als die Bundesrepublik. Das ist einerseits zu beklagen, aber andererseits auch verständlich. Das von Wehler sehr genau analysierte Scheitern des "deutschen Bolschewismus" ist Geschichte geworden, die DDR-Gesellschaft nach einer historischen Sekunde aufgegangen in den westlich geprägten neuen gesamtdeutschen Staat, dessen verfassungsrechtlichen und wirtschaftspolitischen Grundlagen die Wiedervereinigung überlebt haben.
Auch im zweiten Teil seines Buches, in dem Wehler Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse politischer Herrschaft und die Kultur der beiden deutschen Staaten darstellt, findet der Leser fesselnde Erklärungen und Urteile über das, was sich diesseits und jenseits der Elbe entwickelte. Erstaunlich allerdings, wie unsouverän Wehler in diesen Passagen mit der 68er Bewegung umgeht. Da wird der Historiker zum Polemiker. Man mag ihm noch mühsam folgen, wenn er mit unüberhörbarer Befriedigung konstatiert, dass "politisch die deutsche 68er-Bewegung rundum gescheitert" ist. Auch seine Hinweise auf die ziemlich irrwitzigen rätedemokratischen, vulgärmarxistischen und anarchistischen Ideen dieser Bewegung sind nicht unberechtigt. Es gibt viel zu kritisieren, was sich da für einen Augenblick an den radikalen Rändern der 68er abspielte.
Aber die Behauptung, im Grunde sei das, was die 68er für sich reklamierten, schon in den späten 50er und frühen 60er Jahren gesellschaftliche Wirklichkeit geworden, ist schlichtweg Unsinn. Natürlich haben schon vorher junge Historiker einen wichtigen neuen Blick auf die Geschichte des Dritten Reiches geworfen. Die Fischer-Kontroverse, der Frankfurter Auschwitzprozess oder die Ideen der Bildungsreformer fallen, wie Wehler zu Recht betont, vor die Zeit der 68er. Aber der Historiker müsste doch eigentlich wissen, dass erst Montesquieue und dann die Amerikanische Verfassung kam, erst die Aufklärer und Enzyklopädisten die Bühne betraten und dann die Französische Revolution die europäische Geschichte bewegte. Die 68er haben die Welt nicht neu erfunden, aber sie haben den Ideen der wenigen intellektuellen Aufklärer der frühen Bundesrepublik zum massenhaften Durchbruch verholfen. Schon die Sprache, die Wehler auf diesen Seiten über das Geschehen wählt, befremdet. Die Hinrichtung des Studenten Benno Ohnesorg in einem Berliner Hinterhof wird mit der banalen Bemerkung "ein Polizist erschoss den Studenten" geschildert. Die zweifellos dummen und unerzogenen Studenten, die in den Hörsälen die Vorlesungen ihrer Professoren störten, sind dagegen für Wehler ein "zügelloser Pöbel". Der SDS, so Wehler recht pauschal, habe sich für Gewalt entschieden. Kein Wort dagegen über die gewalttätigen Provokationen mit der die Polizei den zunächst keineswegs gewalttätig demonstrierenden Studenten in Frankfurt, Berlin oder München gegenübertrat. Es bleibt interessant, wie traumatisch das deutsche Bürgertum und vor allem die Hochschullehrer, die damals lehrten, nach wie vor auf die 68er reagieren.
Wenn darüber hier etwas ausführlicher gesprochen worden ist, dann auch deswegen, weil Wehlers Darstellung der 68er, aber auch seine abfälligen Bemerkungen über die Friedensbewegung der achtziger Jahre zeigen, wie schwierig es für den Historiker wird, abgewogen und "neutral" über eine Zeit zu schreiben, die er selbst miterlebt hat. Über weite Strecken ist Wehler dies allerdings souverän gelungen. Das zeichnet sein Buch aus. Und natürlich gehört die nun abgerundete "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" zum Besten, was auf diesem Feld von einem deutschen Historiker geschrieben worden ist.
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte - Band 5
Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949 – 1990
C. H. Beck Verlag, München 2008
Auch in diesem Band zeigt Wehler, wie ungemein spannend Gesellschaftsgeschichte sein kann. Sein Blick auf die beiden Deutschlands, die – ob gewollt oder nicht – das Erbe eines Höllenreiches antreten mussten, ist in seiner Klarsichtigkeit von bestechender analytischer Kraft. Die politischen Rahmenbedingungen, die Bevölkerungsgeschichte, die Entwicklungsprozesse der Wirtschaft, der scharfe Blick auf das soziale Gefälle – Wehler gelingt es auf den ersten 250 Seiten in faszinierender Weise, die Geschichte der beiden Deutschland darzustellen. Hier wird nicht über das, was war, spekuliert, hier verliert sich der Historiker nicht in
ideologischen Deutungen und parteilichen Erklärungen. Wehler lässt Zahlen sprechen, räumt mit mancher Legende auf, vermittelt dem Leser auf überzeugende Weise, mit welchen Verdrängungen die Alltagspolitik auch in diesen Jahrzehnten vielfach die Wirklichkeit aus den Augen verloren hat.
Trotzdem ist es mit Blick auf die letzten gut hundert Jahre deutscher Geschichte ein bemerkenswertes Fazit, das der Historiker ziehen kann. Das "kurze Jahrhundert", das nach Wehler mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges beginnt und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres bis zur Elbe reichenden Imperiums im Jahre 1990 endet, hält für die Deutschen ein Happy end bereit.
"Wohin man immer auch in der westlichen Welt blickt, hat sich nirgendwo ein derartiger Wirbel der Herrschaftsformen ereignet wie im deutschsprachigen Mitteleuropa, schließlich auch im Gehäuse des deutschen Nationalstaates von 1871. Der politischen Mentalität seiner Bevölkerung wurden dadurch traumatische Verletzungen zugefügt und enorme Anpassungsleistungen abverlangt. Es grenzt schon an ein kleines Wunder, dass sich insbesondere über die letzten hundert Jahre hinweg eine regenerationsfähige politische Grundsubstanz erhalten hat, die trotz zweier Weltkriege und zweier Diktaturen den Auf- und Ausbau eines demokratischen Gemeinwesens ermöglichte."
Warum die Deutschen dann doch noch zu soliden Demokraten wurden und sich nach 1945 im Westteil des geteilten Landes nicht das Drama der ersten deutschen Republik wiederholte, das hat viele Gründe. Nicht zuletzt aber ist es die egoistische Klugheit der Amerikaner und die sich durch glückliche weltpolitische Fügungen so rasch erholende Wirtschaftskraft gewesen, die für den weltweit bewunderten politischen und materiellen Wiederaufstieg der Westdeutschen verantwortlich war. Acht Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten Deutschlands und aus Osteuropa strömten nach 1945 ins Land, bald folgen rund drei Millionen Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone und aus der DDR. Und trotz der noch viele Jahre sichtbaren Wohnungs- und Versorgungsnot und zunächst hoher Arbeitslosigkeit bleiben radikale Ausbrüche, wie sie die politische Szene in der Weimarer Republik bestimmten, aus.
"Es gehört zu den nachhaltig begünstigenden Entwicklungsbedingungen der Bundesrepublik, dass in den Nachkriegsjahren wegen der Erfahrungen mit der Führerdiktatur eine neue charismatische Herrschaft ganz und gar unattraktiv wirkte. Trotz aller Belastungen gelang es, die durchaus existentielle Krise der Kriegsfolgen – und eine solche Krise ist nun einmal die conditio sine qua non für den Aufstieg eines Charismatikers – im Grunde verblüffend schnell zu überwinden."
Bald dann, als die Bundesrepublik zu einer Wirtschaftsmacht aufgestiegen ist und die eigene Bevölkerung nicht mehr ausreicht, die Forderungen der Industrie nach Arbeitskräften zu befriedigen, holen die Westdeutschen die Gastarbeiter ins Land. Bis in unsere Tage hinein verschließt die Politik vor dem, was sich da bevölkerungspolitisch entwickelte, die Augen. Die Bundesrepublik ist – mit all ihren kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen - ein Einwanderungsland geworden
"Im Gesamteffekt weist die Bundesrepublik zwischen 1950 und 2000 - in relativer Größenordnung - die weltweit höchsten Zuwanderungsraten auf. Um 1990 besaß sie - erneut relativ - mehr im Ausland geborene Einwohner als die USA. In den ersten vierzig Jahren ihrer staatlichen Existenz übertraf sie damit den klassischen Einwanderungsrekord, den die ´New Immigration` in die Vereinigten Staaten zwischen 1910 und 1913 bisher markiert hatte."
Generell gilt für Wehlers Darstellung, dass der Leser auf verblüffend viele politische Details der bundesrepublikanischen Entwicklungen stößt, die nicht nur von Fehlentscheidungen, sondern auch von tief sitzenden Verweigerungen der Politik berichten, rational zu handeln. Insofern triumphiert hier die gesellschaftsgeschichtliche Darstellung. Zahlen und Fakten, die vorurteilslose Beschreibung von Strukturen und Institutionen sind unbestechlicher als das historische Schwadronieren.
"Die grenzenlose Subventionierung der Landwirtschaft durch den agrarpolitischen Interventionismus und Protektionismus hat sich, je länger desto mehr auf das Ganze gesehen, als eine grandiose Fehlinvestition zugunsten einer stetig schrumpfenden, hoch privilegierten Minderheit erwiesen, während die Zukunftssicherung des Landes durch die entschlossene Förderung etwa von Bildung und Wissenschaft – sowohl im Schul- als auch im Universitätssystem fiel die Bundesrepublik in das untere Drittel der westlichen Industrieländer ab – blindlings vernachlässigt wurde."
Seit den achtziger Jahren favorisieren führende Köpfe der Sozialwissenschaft neue Begriffe, die den Wandel der westlichen Gesellschaften deuten sollen.
An die Stelle der Klassen treten hier "Individualisierung und Pluralisierung, Lebensstil und Milieu". Für Wehler sind diese Diskussionsbeiträge nicht mehr und nicht weniger als ein Wegdifferenzieren der harten Strukturen sozialer Ungleichheit. Er schreibt im Epilog:
"Überall besteht Soziale Ungleichheit fort. Deshalb ist die Behauptung verblüffend realitätsblind, dass in der Bundesrepublik keine Unterschichten mehr existierten. Denn es gibt diese Unterklassen genauso wie die Oberklassen in der Wirtschaft, der akademischen Intelligenz und dem Staatsapparat. Doch im Vergleich mit früheren Zeiten haben diese empirisch unleugbaren Disparitäten bisher keinen feindselig geführten Klassenkampf ausgelöst."
Die DDR, die, wie Wehler zu Recht meint, "unter extrem unterschiedlichen Konstellationen antreten" musste, findet in seiner Darstellung einen erheblich geringeren Platz als die Bundesrepublik. Das ist einerseits zu beklagen, aber andererseits auch verständlich. Das von Wehler sehr genau analysierte Scheitern des "deutschen Bolschewismus" ist Geschichte geworden, die DDR-Gesellschaft nach einer historischen Sekunde aufgegangen in den westlich geprägten neuen gesamtdeutschen Staat, dessen verfassungsrechtlichen und wirtschaftspolitischen Grundlagen die Wiedervereinigung überlebt haben.
Auch im zweiten Teil seines Buches, in dem Wehler Strukturbedingungen und Entwicklungsprozesse politischer Herrschaft und die Kultur der beiden deutschen Staaten darstellt, findet der Leser fesselnde Erklärungen und Urteile über das, was sich diesseits und jenseits der Elbe entwickelte. Erstaunlich allerdings, wie unsouverän Wehler in diesen Passagen mit der 68er Bewegung umgeht. Da wird der Historiker zum Polemiker. Man mag ihm noch mühsam folgen, wenn er mit unüberhörbarer Befriedigung konstatiert, dass "politisch die deutsche 68er-Bewegung rundum gescheitert" ist. Auch seine Hinweise auf die ziemlich irrwitzigen rätedemokratischen, vulgärmarxistischen und anarchistischen Ideen dieser Bewegung sind nicht unberechtigt. Es gibt viel zu kritisieren, was sich da für einen Augenblick an den radikalen Rändern der 68er abspielte.
Aber die Behauptung, im Grunde sei das, was die 68er für sich reklamierten, schon in den späten 50er und frühen 60er Jahren gesellschaftliche Wirklichkeit geworden, ist schlichtweg Unsinn. Natürlich haben schon vorher junge Historiker einen wichtigen neuen Blick auf die Geschichte des Dritten Reiches geworfen. Die Fischer-Kontroverse, der Frankfurter Auschwitzprozess oder die Ideen der Bildungsreformer fallen, wie Wehler zu Recht betont, vor die Zeit der 68er. Aber der Historiker müsste doch eigentlich wissen, dass erst Montesquieue und dann die Amerikanische Verfassung kam, erst die Aufklärer und Enzyklopädisten die Bühne betraten und dann die Französische Revolution die europäische Geschichte bewegte. Die 68er haben die Welt nicht neu erfunden, aber sie haben den Ideen der wenigen intellektuellen Aufklärer der frühen Bundesrepublik zum massenhaften Durchbruch verholfen. Schon die Sprache, die Wehler auf diesen Seiten über das Geschehen wählt, befremdet. Die Hinrichtung des Studenten Benno Ohnesorg in einem Berliner Hinterhof wird mit der banalen Bemerkung "ein Polizist erschoss den Studenten" geschildert. Die zweifellos dummen und unerzogenen Studenten, die in den Hörsälen die Vorlesungen ihrer Professoren störten, sind dagegen für Wehler ein "zügelloser Pöbel". Der SDS, so Wehler recht pauschal, habe sich für Gewalt entschieden. Kein Wort dagegen über die gewalttätigen Provokationen mit der die Polizei den zunächst keineswegs gewalttätig demonstrierenden Studenten in Frankfurt, Berlin oder München gegenübertrat. Es bleibt interessant, wie traumatisch das deutsche Bürgertum und vor allem die Hochschullehrer, die damals lehrten, nach wie vor auf die 68er reagieren.
Wenn darüber hier etwas ausführlicher gesprochen worden ist, dann auch deswegen, weil Wehlers Darstellung der 68er, aber auch seine abfälligen Bemerkungen über die Friedensbewegung der achtziger Jahre zeigen, wie schwierig es für den Historiker wird, abgewogen und "neutral" über eine Zeit zu schreiben, die er selbst miterlebt hat. Über weite Strecken ist Wehler dies allerdings souverän gelungen. Das zeichnet sein Buch aus. Und natürlich gehört die nun abgerundete "Deutsche Gesellschaftsgeschichte" zum Besten, was auf diesem Feld von einem deutschen Historiker geschrieben worden ist.
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte - Band 5
Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949 – 1990
C. H. Beck Verlag, München 2008