Abschluss von Christian Krachts Poetikvorlesung

Die Spuren des Missbrauchs

Der Schweizer Christian Kracht.
Der Schweizer Autor Christian Kracht. © picture alliance / David Taylor
Ludger Fittkau im Gespräch mit Andrea Gerk |
In seiner ersten Frankfurter Poetikvorlesung sprach Schriftsteller Christian Kracht darüber, wie er als Internatsschüler sexuell missbraucht wurde. In der dritten Vorlesung gab er weitere Details preis - und suchte nach Spuren des Missbrauchs in seinem Werk.
Andrea Gerk: Überraschend und erschütternd war die Frankfurter Poetikvorlesung von Christian Kracht, der in seiner ersten Rede von einer schweren Missbrauchserfahrung als Internatsschüler in Kanada erzählte und dann, angeregt durch diese lange verschüttete Erinnerung sein eigenes Werk neu zu lesen begann. Gestern hielt er nun die dritte und letzte Vorlesung in Frankfurt, heute Abend liest er dort noch mal im Literaturhaus, und ich bin jetzt mit unserem Korrespondenten Ludger Fittkau in Frankfurt verbunden. Hallo, guten Morgen, Herr Fittkau!
Ludger Fittkau: Guten Morgen, Frau Gerk!
Gerk: Worüber hat Christian Kracht denn gestern zum Abschluss dieser Poetikvorlesung gesprochen?

Pastor Gleed schmeichelte sich bei Internatsschülern ein

Fittkau: Er hat noch mal den Bogen geschlagen zur ersten Vorlesung, die ja so viel Furore und Aufmerksamkeit erzielt hat. In der zweiten Vorlesung hatte er viel vorgelesen von T.S. Elliot und eher von der Heilung nach der Missbrauchserfahrung gesprochen durch Literatur. Gestern nun kehrte er aber nochmal zurück nach Kanada und zu dieser Situation der Missbrauchserfahrung, und er hat sich dann länger mit dem Täter auseinandergesetzt, Pastor Keith Gleed. Besonders perfide, sagt er, war, wie dieser Gleed als Ersatzvater sich in die Seelen der Internatsschüler einschmeichelte, quasi um ihre Psychen sozusagen rang, um dann, als sie Vertrauen gefasst haben, diesen Missbrauch zu begehen. Das hätte er auch noch mal im Gespräch mit Zeugen und Anwälten auch der anderen Betroffenen recherchiert.
Das erinnert so ein bisschen an die Geschichte, die auch hier gerade sehr bekannt ist im Rhein-Main-Gebiet, Odenwaldschule, Gerold Becker, auch der Missbrauch dort, das ist auch so eine charismatische Figur gewesen. Offenbar auch dieser Pastor Keith Gleed, mit dem Kracht zu tun hatte. Dann kam ein Abschnitt zur Religion. Er hat sich also auch mit Religion gestern beschäftigt, und dann ganz kurz zum Schluss nochmal das eigentliche Thema der Poetikvorlesung, nämlich die Emigration, das war eigentlich das Thema. Da hat er aber nur sehr kurz das angesprochen, wie er überhaupt durch die vielen Zitate von anderen Dichtern, Elliot und andere, doch wenig Zeit hatte, dann wirklich eigene Gedanken auszuformulieren. Das galt für die zweite und auch die dritte Vorlesung.

Kracht geht sein Werk neu durch

Gerk: Er hatte ja auch im ersten Teil schon damit begonnen, sein Werk daraufhin jetzt neu zu lesen, und das haben auch die Literaturkritiker aufgegriffen, diese Anregung. Hat er das denn fortgesetzt gestern?
Fittkau: Ja, das hat er fortgesetzt. Tatsächlich scheint es ihm jetzt wichtig zu sein, sein Werk noch mal durchzugehen und zu gucken, welche Spuren gibt es da des Missbrauchs. Er geht regelrecht mit einer Psycho-Methode heran, psychoanalytisch könnte man es nennen. Die Missbrauchsszene ist für ihn wirklich so eine Art Urszene traumatischer Art. Er sucht jetzt nach Stellen in seinem Werk, wo das angelegt ist, wo er das aufgegriffen hat, vielleicht auch unbewusst aufgegriffen hat.
Gestern hat er eine längere Strecke aus dem Roman "Die Toten" vorgelesen, wo es auch um einen Lehrer ging, der sich sozusagen annähert an Schüler, um da auch erotische Fantasien auszuleben. Also er sucht jetzt sozusagen selbst nach diesen Stellen, hat selbst seine aktuelle Neigung, zur anglikanischen Kirche überzutreten – das hat er erzählt, dass er jetzt plant, Anglikaner zu werden –, stellt er jetzt unter den Verdacht, dass er das möglicherweise deswegen tut, weil er damit die sexuellen Fantasien des Täters, Pastor Keith Gleed, er sagt, auf "sonderbar verdrehte Weise umdrehen und verwandeln" wolle. Also, alles was er tut, stellt er jetzt sozusagen unter den Verdacht, dass es mit dieser Missbrauchsszene zu tun hat.

Der Rebell Kracht

Gerk: Wie haben denn die Zuschauer reagiert? Ich nehme an, es war brechend voll bei der Presse, die es dazu gab?
Fittkau: Ja, es war tatsächlich brechend voll, sowohl in der zweiten als auch in der dritten Vorlesung. In der zweiten waren ja viele Literaturkritiker da, das war gestern nicht so der Fall. Aber der Saal war voll, rund tausend Menschen haben sehr aufmerksam gelauscht. Also es scheint doch eine gewisse Spannung zu haben für die Leute, diese psychoanalytische Spurensuche im Werk. Und am Schluss hat er dann noch mal kurz angedeutet, dass er als Kind schon mal versucht hatte, seine Schule anzuzünden, also offenbar aus diesen Erfahrungen auch mit Internat und so weiter. Das fand dann am Ende auch viel Beifall. Also sozusagen das Rebellische spielte eine ganz große Rolle auch in der Rezeption der Zuschauer.
Gerk: Diese Art von Bekenntnisliteratur hat ja auch eine lange Tradition. Aber gleichzeitig ist man so ein bisschen erstaunt gewesen, wie gut das jetzt gerade in die Zeit, in diese Me-too-Debatte passt. Kam das auch irgendwie zum Tragen?

Was passiert hinter den Internatsmauern?

Fittkau: Nicht explizit in seinem Vortrag, aber man muss es, glaube ich, sehen. Es ist einfach so, dass dieses Bekenntnis und auch das, was er jetzt weiter recherchiert mit den Betroffenen, das steht natürlich im Kontext dieser Me-too-Debatte. Es steht auch im Kontext der Odenwaldschule. Das ist in Frankfurt sehr präsent, weil die Odenwaldschule ja nicht weit von Frankfurt ist. Diese Debatte der letzten Jahre über Missbrauch gerade im Internat, diese auch sehr abgeschottete Situation der Internate, wo so was dann ja auch besonders stark stattfindet – Kloster Ettal in Bayern und so weiter –, das ist sehr präsent. Ich glaube, das ist einfach ein Sujet, das die Leute wirklich interessiert. Was passiert hinter diesen Mauern von Internaten, abgeschlossene Einrichtungen, und dann hin bis zur Me-too-Debatte, das ist, glaube ich, schon wichtig als Hintergrund.
Gerk: Und wie sich das für die Neulesung des Werks von Christian Kracht auswirkt, das werden wir beobachten. Ludger Fittkau, vielen Dank für dieses Gespräch. Und die Lesungen von Christian Kracht, die traditionell die Frankfurter Poetikvorlesung abschließt, findet heute um 19:30 Uhr im Literaturhaus in Frankfurt statt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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