Abseits des Stromes der Zeit

Von Hans-Martin Lohmann |
Hannah Arendt ging ihren eigenen Weg. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Unabhängigkeit, die auf nichts und niemanden Rücksicht nahm, stand Arendt in der jungen Bundesrepublik lange Zeit im Schatten der zurückgekehrten Emigranten der Frankfurter Schule, ehe das Werk der Philosophin seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eine triumphale Rezeption erlebte.
Sie sei, bemerkte Hannah Arendt einmal, weder links noch rechts, weder liberal noch prinzipienfest, und sie glaube nicht einmal an irgendeinen Fortschritt. Ihr Credo lautete:

"Wo von geistigen Lagern die Rede ist, herrscht meistens der Ungeist."

Arendt stammte aus einer alten Königsberger Familie reformierter Juden von liberaler Grundhaltung. Nach dem frühen Tod des Vaters, nach unruhigen Jugendjahren in Königsberg, einem Schulverweis und schließlich glänzend bestandenem externen Abitur studierte Arendt ab 1924 Philosophie, Theologie und klassische Philologie in Marburg vor allem bei Martin Heidegger und Rudolf Bultmann, in Freiburg bei Edmund Husserl und in Heidelberg bei Karl Jaspers, von dem sie mit einer Arbeit über den "Liebesbegriff bei Augustin" promoviert wurde. In diese Jahre fällt auch die Liebesbegegnung mit dem 17 Jahre älteren Heidegger - eine Begegnung, die schließlich zerbrach, zerbrechen musste, und dennoch nach Emigration und Krieg eine wie immer geläuterte Fortsetzung fand. Während sich der Autor von "Sein und Zeit" 1933 entschlossen zum Nationalsozialismus bekannte, ging seine philosophische Schülerin und ehemalige Geliebte ebenso entschlossen in die Pariser Emigration. 17 Jahre später, im Februar 1950, schrieb Hannah Arendt jenem Mann, der in jeder nur denkbaren Hinsicht anders war als sie und der es nicht einmal fertig brachte, ihr gegenüber offen über sein Verhalten im Jahre 1933 zu sprechen:

"Ich habe mich nie als deutsche Frau gefühlt und seit langem aufgehört, mich als jüdische Frau zu fühlen. Ich fühle mich als das, was ich nun eben einmal bin, das Mädchen aus der Fremde."

Noch vor ihrem erzwungenen Exil hatte Arendt die Arbeit an einem Buch in Angriff genommen, das erst viel später erscheinen sollte und in dem es ebenfalls um ein "Mädchen aus der Fremde" geht - eine Biografie Rahel Varnhagens, "Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik". Wenn in dieser Schrift die Figur des Paria, des Ausgestoßenen thematisiert wird, so ist man, Arendts Jüdischsein und die Zeitumstände berücksichtigend, geneigt, darin auch Züge der Autorin wiederzufinden.

Trotz ihrer tiefen Prägung durch Heidegger und die deutsche Philosophie wechselte Arendt seit den 30er Jahren, in denen sie sich von Paris aus in jüdischen Hilfsorganisationen betätigte, das Fach, indem sie sich zunehmend politischen Fragen und Themen widmete. Dieser Wechsel hatte für sie ebenso nahe liegende wie existentielle Gründe:

"Ich habe angefangen mit Philosophie und habe Philosophie studiert bis zum Jahre 1933. Und in diesem Zeitpunkt habe ich natürlich Deutschland nicht gerade freiwillig verlassen. Wir alle wissen, dass da bestimmte politische Dinge geschehen sind, die Juden zwangen, Deutschland zu verlassen. Bei der Gelegenheit ist mir aufgefallen, dass Politik im Leben von Menschen eine Rolle spielen könnte, und von daher, glaube ich, datiert mein Interesse an Politik und an politischer Theorie."

1941 dem europäischen Kriegs- und Vernichtungsschauplatz soeben entronnen, machte Arendt in den Vereinigten Staaten als Hochschullehrerin und gefragte Autorin eine glänzende Karriere. 1958 wurde sie die erste Professorin an der bis dahin ausschließlich von Männern dominierten ehrwürdigen Princeton University. Ihre 1951 publizierte Studie über "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", die wenig später auch in deutscher Übersetzung erschien und rasch zu einem Standardwerk avancierte, nahm kühn etwas vorweg, was noch in den 80er Jahren hierzulande Anstoß erregte und zum so genannten. Historikerstreit führte: den Systemvergleich von Nationalsozialismus und Stalinismus im Sinne ihrer strukturellen totalitären Ähnlichkeit. Auch ihr Bericht über den Jerusalemer Eichmann-Prozess Anfang der 60er Jahre, in dem sie die These von jener "furchtbaren Banalität des Bösen" vertrat, "vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert", stieß auf heftigen öffentlichen Widerspruch. Charakteristisch für alle Publikationen und Stellungnahmen Arendts blieb, dass sie sich nie scheuten, den politischen und moralischen mainstream aufzukündigen.

Mit der französischen Philosophin Julia Kristeva, die ihr unter dem Titel "Das weibliche Genie" eine eindringliche Studie gewidmet hat, könnte man sagen, das "Genie" Hannah Arendts habe darin bestanden, der einzelnen Person, ihrer Singularität und Autonomie eine unverwechselbare und machtvolle Stimme gegeben zu haben. Im Zeitalter des Totalitarismus, das Arendt als Frau und Jüdin zu bestehen hatte, galt ihr Plädoyer einem weltfähigen Individuum, das den prekären Zwischenraum zwischen Gleichschaltung und Vereinzelung zu besetzen imstande ist und dadurch zum zoon politikon wird. Sie selber hat diese "Vita activa", wie der Titel eines ihrer bekanntesten Werke lautet, in ihrer Person vorgelebt.