Die ratlose Queen of Pop
Mit über 90 Millionen verkauften Tonträgern ist Lady Gaga eine der erfolgreichsten Musikerinnen weltweit. Doch eine neue Platte von ihr ist kein Selbstläufer: 25 Millionen Dollar Verlust fuhr das neue Album "Art Pop" ein. Sie habe vergessen, sich neu zu erfinden, sagt der Musikkritiker Tobias Rapp.
Christine Watty: Lady Gaga mit "Art Pop" von ihrem gleichnamigen Album "Art Pop", über das hat unser jetziger Gesprächspartner mal geschrieben: "Es gibt eine Möglichkeit, Platten zu verkaufen, ohne dass sie voller Hits sind: Man muss etwas zu erzählen haben, und das hat Lady Gaga offensichtlich auch – sie weigert sich nur, es in ihre Songs zu gießen", Zitat Ende. Und überhaupt klang der Musikkritiker Tobias Rapp damals nicht sonderlich begeistert von dem Punkt, an dem sich Lady Gagas Karriere zur Veröffentlichung dieses Albums befand. Hallo, Tobias Rapp!
Tobias Rapp: Hallo, wunderschönen Tag!
Watty: Ihren gestrengen Worten folgten quasi auf dem Fuße die Fakten: Gerade wurde bekannt, dass das Album "Art Pop" 25 Millionen Dollar Minus eingespielt hat, und es laufen – um es noch dramatischer werden zu lassen – Gerüchte, dass dieser Misserfolg auch zu Kündigungen beim Label Interscope führen könnte. Und jetzt wird also natürlich schon sofort das Ende dieser glanzvollen Karriere von Lady Gaga ausgerufen. Sehen Sie das auch so? Läuft hier etwas aus, oder können wir nicht einfach noch immer ein bisschen von einem Flop-Album sprechen?
Rapp: Na ja, das ist schwierig zu beantworten. Ich glaube, dass die Platte schon ziemlich entscheidend in Lady Gagas Karriere war, weil schon das Album davor, "Born This Way", signifikant schlechter gelaufen ist als das Debut. Also mit dem dritten Album hatte Lady Gaga, glaube ich, schon vor, zu zeigen, dass sie immer noch die Königin des Pop ist. Also, ich glaube, ihr Plan war schon, dass das das erfolgreichste Album des Jahres sein sollte. Da ist es weit davon entfernt. Das kann natürlich immer noch sein, dass sie sich erholt.
Ich spreche auch aus der Position des enttäuschten Fans, wenn man so will. Also ich finde, dass Lady Gaga schon eine der klügsten Künstlerinnen ist, die der Pop so hat. Ich glaube, dass sie sehr intelligent ist, sehr smart, sehr ehrgeizig, dass sie auch einen sehr großen, sehr weiten Horizont hat und viel weiß und viel wissen möchte und viele Dinge, die nichts mit Musik zu tun haben, in ihre Musik integrieren möchte. Das sind alles gute Voraussetzungen, da kann schon noch mal was nachkommen. Aber so, wie es jetzt im Moment aussieht, sieht es nicht gut aus.
Watty: Wir machen noch mal gleich weiter mit der Analyse, aber zuvor noch eine praktische Frage: Wie kann denn eigentlich so ein großer Verlust entstehen von 25 Millionen Dollar? Was ist eigentlich genau damit gemeint?
"Eine sehr riskante Wette auf die Zukunft"
Rapp: Die Platte sollte früher rauskommen, als sie eigentlich rausgekommen ist. Da kann man gleich draus schließen, aus solchen Verzögerungen, dass da wohl Leute nicht zufrieden waren. Das heißt, es müssen neue Studios gebucht werden, die sind natürlich teuer, dann müssen neue Musiker eingestellt werden, neue Produzenten bezahlt werden – also allein in der Herstellung von so einem Album können sich, je länger so was dauert, schon ziemlich große Kosten auftürmen.
Und wenn man dann noch darauf setzt, das Album mit einer riesigen, sehr teuren PR-Kampagne in die Welt zu bringen, dann ist es halt eine sehr riskante Wette auf die Zukunft. Entweder, diese PR-Kampagne knallt, und dann kann man die ganzen Kosten, die damit einhergehen, auch wieder einspielen, und dann verstärkt sich das ab einem gewissen Punkt auch selber, oder es verpufft eben, und dann ist das Geld weg.
Watty: War denn diese riskante Wette auf die Zukunft auch die Zusammenarbeit mit dem Kunstbereich? Lady Gaga hat sich ja mit diesem Album dorthin begeben, Jeff Koons machte das Cover, mit Marina Abramovic hat sie angeblich spirituelle Übungen unternommen. Hat sie sich da verhoben, als sie es mit der Hochkultur aufgenommen hat, und fährt deshalb jetzt so viel Schelte ein?
Rapp: Ich glaube, das ist andersherum. Ich glaube tatsächlich, dass dieser Flirt mit der Kunst, den sie da eingegangen ist, der ist schon Teil des Problems. Ich glaube, dass Lady Gaga sich total verlaufen hat. Als sie anfing, als ihre erste Platte kam, war das eine Künstlerin, die deswegen innerhalb von einem Jahr von einem vollkommen unbekannten Wesen zu dem größten Star der Welt aufgestiegen ist, weil sie eine ganz genaue Vision hatte, was sie wollte, wer sie ist, was sie darstellen möchte. Das war sozusagen so eine Kombination von Themen, so ein Cluster aus Ruhm, Außenseitertum, Glamour, Kunst, das war vollkommen stimmig, plus: Sie hatte die Hits.
Und wenn man sie heute sich anschaut bei ihrem dritten Album, dann muss man sagen: Da ist keine stimmige Vision mehr da. Die weiß nicht so genau, was sie will. Manchmal bezieht sie sich auf alte Vorstellungen wie zum Beispiel "Applause", das ist sozusagen noch mal die ganzen Themen, wie gierig man nach Ruhm ist und so weiter, aber ansonsten geht das alles wild durcheinander.
Und ich habe das Gefühl, als wenn die Kunst, also diese Zusammenarbeit mit Abramovic und Jeff Koons und Robert Wilson – das ist so eine Ersatzhandlung. Sie schreit überall rum "Kunst! Kunst! Kunst!", weil sie denkt oder weil sie das Gefühl hat, das wäre dann eine Vision. Aber das ist inhaltlich durch nichts gefüllt. Das ist einfach nur eine Behauptung, dass man sich sozusagen Bedeutung abholt bei Kunst, wo irgendwie einem das dann jeder glaubt, weil man nicht genau hingucken braucht.
Aber de facto – ich habe ja im Sommer ein Interview mit ihr gemacht und habe sie mal gefragt: Was soll denn das eigentlich? Was ist das denn, was du dir da von Marina Abramovic holst? Und da kommt dann ja auch gar nichts, das kann die überhaupt nicht begründen.
Genauso mit Jeff Koons, das sind einfach immer nur Behauptungen. Das ist so eine Behauptung, ja, die Pop Art hat aus der Kunst Pop gemacht, jetzt mache ich aus dem Pop wieder Kunst, also das ist einfach so Gequatsche. Und so lange das eingebettet ist in eine künstlerische Strategie, ist ja auch jeder Popkünstler herzlich eingeladen, den größten Unfug zu reden. Das kann ja auch ganz toll sein. Aber in Lady Gagas Fall ist es wirklich, für mein Gefühl, die schiere Ratlosigkeit und wirklich nur noch Ausdruck einer sehr intelligenten und sehr talentierten Künstlerin, die sich hoffnungslos verlaufen hat.
Watty: Der Musikkritiker Tobias Rapp im "Radiofeuilleton". Ist aber es nicht ein bisschen unfair, ihr jetzt irgendwie diese aufgesetzte Behauptung vorzuwerfen? Ich habe sie mal auf einem Konzert gesehen vor einem Jahr, wo sie diese, wie ich fand, sehr bedeutungsvollen Worte ausgesprochen hat: "Ich bin alles, wovor ihr euch fürchtet, ich bin alles, was ihr liebt. Ihr habt mich erschaffen und ich bin ihr", also so eine richtig direkte Ansage: Ich will eh nichts, ihr könnt alles mit mir machen, was ihr wollt. Und jetzt plötzlich reicht es nicht mehr, weil sie sich in den Dunstkreis der Kunstszene gestellt hat.
"Eine Wiedergängerin von David Bowie"
Rapp: Nein, der Witz war ja, dass sie solche Statements sagen konnte, weil die künstlerische Vision, die sie hatte, diese Art von Kommunikation ermöglicht hat. Also das, was sie sozusagen auf der Bühne dargestellt hat, war genau das, was das Publikum auf sie projiziert hat. Das hat sie zurückgegeben und war ja sehr klug und sehr geschickt im Orchestrieren dieser Austauschbeziehung. Und das ist ja genau das, was jetzt nicht mehr funktioniert. Deswegen kaufen die Leute diese Platte nicht, weil die Leute diese Gefühle, die sie bisher mit Lady Gaga verbinden konnten, in der neuen Platte nicht finden.
Und das jetzt einfach auf Lady Gagas Schultern abzuladen, ist natürlich auch zu einfach. Also zum Beispiel hat sie bei ihrer ersten Platte und auch zum Teil noch bei ihrer zweiten mit einem sehr, sehr guten Team zusammengearbeitet, das sogenannte House of Gaga, hat es auch immer wieder in Interviews gesagt, dass sie halt das nicht alleine macht, sondern dass es so eine Mannschaft von jungen, kreativen Leuten ist und so. Und sie hat in den letzten 18 Monaten einige Leute verloren, da sind ein paar Leute gegangen, am Wichtigsten wahrscheinlich dieser Nicolas Formichetti, der ihre Stylings gemacht hat. Und das sieht man auch.
Also so was wie dieses Fleischkleid, mit dem sie damals solche Furore gemacht hat – die Idee muss man nicht nur haben, man muss das ja auch umsetzen können. Und wenn man sieht, wie sie jetzt im Augenblick sich stylt, das ist zwei Klassen drunter unter dem, was Nicola Formichetti für sie gemacht hat. Da hat sie einfach Pech gehabt. Solche Sachen halten nie ewig.
Aber das ist auch Teil der Kunst oder Teil der Fähigkeit, dass man natürlich sein Team erneuern können muss. Man muss nach neuen Leuten Ausschau halten, man kann nicht drauf setzen, dass alle immer bleiben.
Also für mich ist, glaube ich, Lady Gaga im Idealfall so eine Wiedergängerin von David Bowie. Ich finde, sie hat sehr viel Gemeinsamkeiten mit David Bowie. Und man kann aber an der Karriere von David Bowie in den Siebzigern sehen, wie man es eben machen muss, also dass man sozusagen in der Lage sein muss, regelmäßig die alten Images abzustreifen und fallenzulassen, auch auf die Gefahr hin, dass man Leute verliert damit, dass man sich sozusagen neu erfinden muss, dass man neue Wege finden muss, um sich zu entwickeln. Ich glaube auch, dass Lady Gaga ähnlich smart und intelligent und talentiert ist wie Bowie.
Aber was sie eben nicht hinbekommt, das habe ich sie auch in dem Interview gefragt: David Bowie hat sozusagen überraschend auf dem Höhepunkt seines ersten Ruhms die Ziggy-Stardust-Figur sterben lassen. Haben Sie eigentlich vor, Ihre Lady-Gaga-Figur auch irgendwann mal sterben zu lassen? Und da hat die mich angeguckt, als wäre ich vom Mond gefallen.
Aber das wäre sozusagen ein Trick, wie sie aus dieser Falle entkommen könnte, indem sie einfach einen radikalen Schnitt macht und sich eine neue Figur, eine neue Kunstfigur einfallen lässt, um vielleicht dann ähnliche Aspekte, die sie interessieren, aus einer anderen Richtung noch mal anzuschauen. Und ich glaube, dann könnte ihre Kunst auch wieder interessant werden.
Watty: Jetzt haben Sie sie mit David Bowie verglichen, das ist natürlich ein großer Vergleich, zumal auch die beiden Karrieren in ganz anderen Zeiträumen stattgefunden haben. Nochein ganz kurzer Umschwenk zu Beyoncé, passt auch wieder zu David Bowie, der hat ja Anfang des Jahres, ohne es vorher mitzuteilen, ein Album veröffentlicht, genauso hat es Beyoncé auch gemacht: Ist das sozusagen der Alternativweg, also das, was Lady Gaga natürlich im Moment nicht mehr schaffen kann? Sie braucht die PR, dieses Riesenteam, diesen ganzen Trubel, andere Künstler können einfach irgendwann heimlich mit einem Album auf den Markt kommen und fahren dann natürlich auch nicht diese großen PR-Verluste ein.
"Da stimmt auch die Qualitätskontrolle nicht"
Rapp: Klar! Was Beyoncé gemacht hat, ist natürlich wahnsinnig geschickt. Die hat, anstatt einen riesigen und teuren Vorlauf mit PR zu orchestrieren, hat sie einfach nichts gemacht und verlässt sich drauf, dass die ganze PR von alleine kommt. Die ganze PR kommt quasi erst nach der Veröffentlichung, normalerweise kommt die PR ja immer davor. Und die kostet nichts, weil alle freiwillig drüber schreiben.
Aber das ist nur die eine Hälfte der Gleichung. Was man tatsächlich sagen muss, ist: Bei der Beyoncé-Platte stimmt auch alles. Die ist visuell total überzeugend, es ist auf dem höchsten Level künstlerisch umgesetzt, ein Film quasi, der die Musik begleitet oder eben fast schon andersherum, dass der Film der Kern ist und die Musik nur diesen Film begleitet.
Und bei Lady Gaga muss man sagen: Da stimmt auch die Qualitätskontrolle nicht. Wenn man die erste Platte nimmt: Da ist ein Hit nach dem anderen drauf, das sind alles wahnsinnig gute Stücke. Und wenn man die neue Platte nimmt – das bringt es einfach nicht. Da sind keine Hits drauf. Da ist niemand anscheinend, der zu ihr sagt, hör mal, das funktioniert nicht.
Watty: Genau, der ehemalige Manager oder einer der Manager hat das ja genau gesagt und ist dann gegangen, weil sie sich damit nicht abfinden wollte, da nur eine EP rauszubringen. Danke schön an den Musikkritiker Tobias Rapp zu den schlechten Verkaufszahlen, die die Popprinzessin Lady Gaga derzeit einspielt und die im Millionenbereich liegen sollen.
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