Abtauchen ins Unbewusste

Von Elske Brault |
Eine Stunde 40 Minuten dauert Christian Krachts Buch in der Theaterfassung, dargeboten von fünf Schauspielern, untermalt von einem Schulchor, bebildert durch Videos von Handlungsplätzen aus "Faserland". Eine rundum gelungene, sehr genau ausbalancierte Bühnenfassung.
Christian Kracht ist der zweite große Gallenstein des deutschen Literaturbetriebs. Der erste ist Günter Grass, natürlich, auch wenn um den Stein mittlerweile nur noch wenig Galle ist. Der ehemalige SS-Junge reizt die Sohnesgeneration der heute 40- bis 50-Jährigen. Und Christian Kracht reizt zurück: In seinem ersten Roman "Faserland" (1995) entdeckt er die Nazi-Vergangenheit unter den Dünen der Insel Sylt wie in der Studentenverbindung in Heidelberg - erst in der Schweiz, auf neutralem Gebiet, kommt der Deutschlandreisende zur Ruhe. Von dieser Reise handelt "Faserland" - und Regisseur Robert Lehniger führt sie im Ballhof des Theaters Hannover auf geniale Weise in die Gegenwart fort.

Er hat einen Schulchor von 12- bis 14-Jährigen auf oder genauer unter die Bühne geholt. Die bedrohliche Kindermasse schreitet unter einem hohen schwarzen Podest hervor. Dort spielt auf Augenhöhe der Zuschauer, die in stark ansteigenden Stuhlreihen gegenüber sitzen, das eigentliche Geschehen: Fünf Darsteller, vier Männer und eine Frau, sprechen "Faserland", und man hätte damit auch gleich eine Circa-Länge für die Hörbuchfassung des Buches, eine Stunde und 40 Minuten.

Oben also plätschert das Geschehen, redet Christian Krachts fünfgeteilter Monolog von Barbourjacken und Champagner und gefärbten Kontaktlinsen, mit denen sich die Wohlstandskinder der Wirtschaftswundergeneration die Augen blau und die Welt rosarot färben. Unten singt die nächste Generation - denn mit seinen nunmehr 45 Jahren könnte Kracht der Vater dieser Schüler sein - Texte von Blumfeld oder Tocotronic. "Eure Liebe tötet mich/ Und doch bin ich unersättlich/ Weil ihr zur gleichen Zeit die Medizin verschreibt/ Unersetzlich". Welche Medizin da verschrieben wird, ist schon ziemlich klar: Drogenkonsum oder Nike-Sportschuhe, irre Weltreisen oder wildes Farbspritzen als Möchtegern-Künstler, jeder muss sich irgendwelche Selbstbestätigungspflaster aufkleben und das Komplex beladene Ego aufblähen.

Denn die Generation Grass ist nach dem verlorenen Krieg in Gefühlsstarre verfallen, hat eine ernsthafte Auseinandersetzung mit eigener Schuld und eigenen Traumata vermieden, und das pflanzt sich nun fort bis zu den Enkeln. Es hat dabei seine ganz eigene Berechtigung, dass die Tocotronic-Texte in der Kinderchor-Fassung so kitschig wirken wie Schlager von Andrea Berg. Oben auf der Bühne, auf der Bewusstseinsebene, diskutieren die fünf Krachts mega-cool den besten Hemdenschneider oder die soziale Signalwirkung der Zigarettenmarke. Alles, was aus dem Unterbewussten hochblubbert, lässt sich als schlechter Stil brandmarken, als Kitsch belächeln und abtun.

Aber es bricht sich eben immer wieder Bahn - im Roman in konvulsivischen Speikrämpfen, auf der Bühne in einer Wasserorgie. Aus Mineralwasserkisten ist dort eine Umkleidekabine gebaut, damit die Schauspieler trockene Sachen anziehen können, nachdem sie mit dem Wasser aus den Plastikflaschen sich übergossen oder die Bühne geflutet haben. Das Wasser-Ausschütten ist die saubere Bühnen-Metapher für das Sich-Auskotzen im Roman - so kann auch Daniel Kehlmann sich diese Regietheaterleistung unbeschadet anschauen. Am Schluss landen alle fünf Schauspieler im Mini-Bühnen-Swimmingpool, tauchen unter im See des Unbewussten - und es bleibt offen, ob sie endgültig untergehen oder geläutert wieder auftauchen.

Regisseur Robert Lehniger hat durch seine Zusammenarbeit mit dem Videokünstler Bert Zander vermieden, dass der Zuschauer diese Familienaufstellungsinszenierung allzu psychologisierend interpretiert. Das Ensemble hat nämlich alle Orte aufgesucht, die im Roman eine Rolle spielen, und diese Begegnungen laufen im Hintergrund des Bühnengeschehens als raumfüllendes Video ab. So wird einerseits erneut der Bezug zur Gegenwart hergestellt, andererseits klar gemacht, dass Krachts Roman eben kein autobiographisches Doku-Drama ist, sondern ein kalkuliertes Werk, für das der Autor seinerzeit eine ähnliche Recherche-Reise unternahm wie nun das Schauspielteam. Insgesamt ist "Faserland" am Schauspiel Hannover eine rundum gelungene, sehr genau ausbalancierte Bühnenfassung. Die einen hat sie begeistert, die anderen lässt sie kalt. So ist das mit Christian Kracht.
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