Karin Struck: "Lieben"
Suhrkamp, 1977
451 Seiten
Abtreibung in der Literatur
Abtreibung und Mutterschaft - hier eine Protestkundgebung in den USA - sind auch Thema literarischer Auseinandersetzungen. © Unsplash / Gayatri Malhotra
Zwischen Feminismus und drastischer Entwürdigung
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In den USA protestieren Frauen gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts. Auch in der Literatur ist die Selbstbestimmung über den eigenen Körper ein wiederkehrendes Thema. Meike Feßmann stellt wegweisende Autorinnen und Autoren dazu vor.
Der Schock war groß – nicht nur in den USA, sondern weltweit: Das Oberste US-Gericht hat Ende Juni das landesweit geltende Recht auf Schwangerschaftsabbrüche gekippt. Die Supreme Court-Richterinnen und -richter entschieden sich damit gegen ein 50 Jahre altes Grundsatzurteil.
1973 hatte der Supreme Court im Fall "Roe v. Wade" in den gesamten USA Schwangerschaftsabbrüche ermöglicht, bevor ein Fötus lebensfähig ist, also etwa bis zu 24. Schwangerschaftswoche. Damit ist es nun vorbei.
Auch in Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch nach Paragraf 218 rechtswidrig und strafbar – die Frauen haben, gemäß dem Zusatz 218a, jedoch Spielraum und machen sich nicht strafbar, wenn sie sich vorher beraten lassen und auch dann nicht, wenn Leib und Leben der Schwangeren in Gefahr sind.
Abtreibung und der Umgang der Gesellschaft damit war und ist auch in der Literatur immer wieder ein Thema. Ein paar prägnante Beispiele.
Karin Struck: Gesellschaftskonflikte, ausgetragen am Körper der Frau
Einer Leserin mit längerer Lesebiografie fällt fast automatisch Karin Struck ein. Die mittlerweile fast vergessene Autorin (1947-2006) hat 1973 mit ihrem Debütroman „Klassenliebe“, einem Paradetext der Neuen Subjektivität, ein Thema angeschlagen, das inzwischen breite Aufmerksamkeit bekommt: das Thema der Herkunft. Sie hat über Mutterschaft geschrieben („Die Mutter“, 1975) und auch über Abtreibung, in „Lieben“ (1977).
Schon in diesem Roman treibt die Heldin, eine Frau namens Lotte, die aus ihrer Ehe ausgebrochen ist und von einem anderen Mann schwanger wurde, gegen die eigene Überzeugung ab. Ein Gesellschaftskonflikt, der am und im Körper der Frau ausgetragen wird: Auch wenn Männer an der Entstehung einer Schwangerschaft beteiligt sind, werden die Gewissenskonflikte und die körperlichen Folgen von Frauen erlebt.
Karin Struck schrieb später den Roman „Blaubarts Schatten“ (1991) und die Kampfschrift „Ich sehe mein Kind im Traum. Plädoyer gegen die Abtreibung“ (1992), in denen sie die psychischen Folgen einer Abtreibung zum Argument gegen Schwangerschaftsabbrüche machte.
Geradezu legendär ist ihr Auftritt in der NDR Talkshow vom 3. Juli 1992, wo sie über dieses Thema so in Aufruhr geriet, dass sie schließlich vor laufender Kamera das Studio verließ.
Annie Ernaux: Drastische Darstellung einer Entwürdigung
Auch in Frankreich, wo es mittlerweile die sogenannte Fristenlösung gibt, war Abtreibung in der Vergangenheit ein brisantes Thema. Davon erzählt die Schriftstellerin Annie Ernaux in ihrem Memoire „Das Ereignis“, vor Kurzem verfilmt und beim Filmfestival in Venedig ausgezeichnet.
„Das Ereignis“, zeitlich in den frühen 1960er-Jahren angesiedelt, ist, nicht zuletzt wegen seiner fehlenden Larmoyanz, der wohl stärkste literarische Text, der sich zurzeit zum Thema Abtreibung finden lässt. Alles, was er schildert, ist grausam und schockierend: die Herablassung der Ärzte, die umständlichen Geheimtipps, der Rückzug derjenigen, die ihr helfen wollen und dann doch Angst bekommen.
Hinzu kommen das Desinteresse des Mannes, der sie geschwängert hat, der Versuch, den Fötus mit Stricknadeln abzutreiben, eine gewaltsame Bergtour im Schnee, die dunkle Gasse im 17. Arrondissement in Paris, wo sie gleich zwei Mal eine „Engelmacherin“ aufsuchen muss, bis der Fötus Tage später unter heftigen Blutungen und Krämpfen abgeht.
Annie Ernaux: "Das Ereignis"
Suhrkamp, 2021
104 Seiten, 18 Euro
Am Ende muss sie doch noch ins Krankenhaus, wo eine weitere Demütigung auf sie wartet. „Ich bin doch nicht der Klempner!“, stöhnt der Arzt bei der Ausschabung. Kaum eine Autorin hat die entwürdigende Dramatik eines heimlichen Schwangerschaftsabbruchs mit Klippen, Gefahren und Demütigungen so drastisch und klar geschildert wie Ernaux.
Marlene Streeruwitz: Feminismus und Muttersein
Die österreichische Theaterautorin und Schriftstellerin Marlene Streeruwitz ist nicht nur eine bekennende Feministin mit radikalem Stil, sie hat auch gründlich über das Muttersein nachgedacht. Was sie in den 1990er-Jahren in ihren Tübinger Poetikvorlesungen über die spezielle Konstitution des Mutterseins unter den Bedingungen kapitalistischer Arbeitsteilung geschrieben hat, ist von brüsker Klarheit und hat wenig von seiner Aktualität verloren.
Sie spricht vom mütterlichen Dasein als „Zustand der Ohnmacht“, der aus Sprachlosigkeit resultiere: „Es gibt keine Sprache, die den Bereich der Mutterschaft sprechbar machte.“ Diese Sprachlosigkeit drücke sich in Angst aus: „In der Programmierung der frühkindlichen Angst wird die Geschlechterdifferenz entschieden. Angstverdrängung macht den Mann. Angstgegenwärtigkeit die Frau.“
Marlene Streeruwitz: "Entfernung"
Fischer Taschenbuch, 2008
480 Seiten, 9,95 Euro
Eine Abtreibung kann für Marlene Streeruwitz auch darin begründet liegen, sich nicht in die „umfassende Unfreiheit der Mutterschaft“ begeben zu wollen. Allerdings sei dieses Argument den Frauen versagt, sie müssten andere Gründe vortäuschen. In ihrem Roman „Entfernung“ hat Selma, die weibliche Hauptfigur, aus diesem Grund abgetrieben. Sie lebt bewusst kinderlos.
„Regretting Motherhood“: Über die Gefahren der Mutterrolle
Die Reflexion auf die Möglichkeiten und Gefahren der Mutterrolle wird heute jenseits des Opfer-Habitus in autofiktionalen Texten bearbeitet. So wägt beispielsweise die kanadische Schriftstellerin Sheila Heiti in „Mutterschaft“ ab, was es für sie bedeuten würde, Mutter zu werden.
Sie entscheidet sich am Ende aus persönlichen Gründen dagegen und trägt dabei auch Argumente zusammen, die für einen nüchternen Umgang mit der Frage der Abtreibung nützlich sind.
Sheila Heiti: "Mutterschaft"
Rowohlt, 2020
320 Seiten, 12 Euro
Orna Donath: "Regretting Motherhood - Wenn Mütter bereuen"
Albrecht Knaus, 2016
272 Seiten, 18 Euro
Margaret Atwood: "Der Report der Magd"
Piper, 2020
416 Seiten, 12 Euro
Auch „Regretting Motherhood“, die Studie der israelischen Soziologin Orna Donath von 2015, kann so gelesen werden. Ähnliches gilt für Margaret Atwoods Dystopie „The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd“ aus dem Jahr 1985: Sie inszeniert die Gebärfähigkeit der Frau (in der Versuchsanordnung des Romans sind es nur noch wenige Frauen, die trotz der Umweltverseuchung reproduktionsfähig sind) als Dreh- und Angelpunkt ihrer Unterwerfung.
Martin Walser: Der männliche Blick
Eine interessante Variante des Themas findet sich in Martin Walsers erstem Roman „Ehen in Philippsburg“ aus den späten 1950er-Jahren. Die Hauptfigur Hans Beumann, ein Journalist, überredet seine Geliebte Anne Volkmann, die ihm den Aufstieg in die höhere Gesellschaft Philippsburgs (sprich: Stuttgarts) ermöglicht, zu einer Abtreibung.
Er überredet sie deshalb, weil er sie nicht heiraten möchte, und heiratet sie am Ende doch, nicht zuletzt, um die Qualen einer erst im 4. Monat zustande kommenden schwierigen Abtreibung zu kompensieren. Aber natürlich auch, um seinen gesellschaftlichen Aufstieg abzusichern.
Die Abtreibung ist aus der Perspektive des Protagonisten Hans Beumanns erzählt, so wie alle vier Erzählperspektiven des Romans die männliche Sicht einnehmen.
Martin Walser: "Ehen in Philippsburg"
Suhrkamp, 1985
352 Seiten, 10 Euro
Schon hier zeigt sich das Walsersche Lebensmotiv: die Selbstverständlichkeit, mit der sich der Mann eine Geliebte nimmt, um beides, bürgerliche Existenz mit solider Ehe und sexuelle Abenteuer mit anderen, gerne jüngeren Frauen, unter einen Hut zu bringen.
(Bearbeitung: mkn)