Abtreibung in Nigeria

Die Evangelikalen auf dem Vormarsch

25:47 Minuten
Mädchen in einer Straße in Lagos, Nigeria
Mädchen in Lagos in Nigeria: In keinem Land der Welt sterben so viele Frauen während der Schwangerschaft wie hier. © Kiki Mordi
Von Paul Hildebrandt, Birte Mensing und Kiki Mordi |
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Die Evangelikalen sind bekennende Abtreibungsgegner. Gezielt versuchen sie Einfluss zu nehmen auf die Politik - und das weltweit. In Nigeria wird deutlich, wie sehr dieser Kampf auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird.
Eine Staubglocke liegt über den Straßen von Lagos, Nigerias größter Stadt am Golf von Guinea. Fast 14 Millionen Menschen leben hier bereits, täglich werden es mehr. Abseits der großen Straße sitzt eine Frau in einer dunklen Wohnung. Sie will ihren richtigen Namen nicht nennen, aber sie will ihre Geschichte erzählen.
"Ich war emotional nicht bereit dafür. Zu dem Zeitpunkt war ich nicht einmal finanziell bereit dafür, ich hatte meine Wohnung verloren, meine Mutter ihr Geschäft. Es war nicht mein Plan, mich um ein Kind zu kümmern, es war einfach nicht mein Plan."
Das ist Kenny. Sie hat ihr ganzes Leben in Lagos verbracht, oft an der Grenze zur Armut. Als sie 20 Jahre alt ist, schläft sie zum ersten Mal mit einem Mann, wenige Wochen darauf ist sie schwanger. "Ich war wie taub. Ich habe nichts gefühlt, keine Emotionen. Es war, als hätte ich einen Schlüssel genommen, meinen Kopf verschlossen und den Schlüssel weggeworfen."

Unverheiratete Schwangere werden stigmatisiert

Zu dem Zeitpunkt lebt sie bei ihrer Tante, sie hat Angst, jemandem von der Schwangerschaft zu erzählen, Angst davor, wie andere unverheiratete Mütter stigmatisiert zu werden. Weil sie nicht weiß, wo sie Hilfe bekommen kann, geht sie in die Apotheke und kauft dort Medikamente, von denen sie im Internet gelesen hat. Dann schließt sie sich in ihr Zimmer ein, um die Schwangerschaft alleine zu beenden.
"In der Nacht hatte ich das Gefühl: Ich werde sterben. Ich habe zu Gott gebetet: Bitte, vergib mir meine Sünden. Das ist das Wichtigste. Mein Körper hat sich angefühlt, als würde er verbrennen."
Kenny läuft mit dem Rücken zum Fotografen eine Straße entlang.
Kenny möchte ihren richtigen Namen nicht nennen, aber sie möchte ihre Geschichte erzählen.© Kiki Mordi
In keinem Land der Welt sterben so viele Frauen während der Schwangerschaft wie in Nigeria. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass 58.000 werdende Mütter ihr Leben allein 2015 verloren haben. Fast ein Drittel von ihnen bei dem Versuch, eine ungewollte Schwangerschaft ohne medizinische Hilfe zu beenden.
Auch deshalb hat die britische Organisation Marie Stopes International im Jahr 2009 ihre erste Klinik in Lagos eröffnet. Das blaugraue Gebäude liegt im Zentrum der Stadt. An der Fassade steht auf Englisch: Kinder, weil ich es will – nicht zufällig.
"Frauen kommen aus unterschiedlichen Gründen zu uns: Manche lassen sich auf Geschlechtskrankheiten testen, andere auf Krebs. Etwa drei Mal in der Woche kommt auch eine Frau, um sich nach einer Abtreibung medizinisch nachbehandeln zu lassen."

Britische NGO "Marie Stopes" berät Frauen bei Familienplanung

Odion Iseki arbeitet seit einigen Monaten als Krankenschwester für Marie Stopes. Sie untersucht Patientinnen, klärt über Verhütung auf und ist auch die erste Ansprechpartnerin für schwangere Frauen.
"Vor elf Jahren, als ich noch zur Schule ging, habe ich eine enge Freundin wegen einer unsicheren Abtreibung verloren. Sie ist einfach verblutet. Ich wollte deshalb immer einen Ort haben, an dem ich über Verhütungsmittel und Schwangerschaften aufklären kann."
Die Gänge, durch die Iseki führt, sind schmal und von Neonlampen beleuchtet. In den Behandlungszimmern liegen Kondome und Info-Material bereit. Seit den 70er-Jahren bietet Marie Stopes International weltweit Hilfe bei der Familienplanung an, berät zu Verhütung und versorgt Frauen, die eine Abtreibung durchgeführt haben. In vielen Ländern führen die Ärzte von Marie Stopes auch Abtreibungen durch, in Nigeria ist ihnen das nur im äußersten Notfall erlaubt. Auch deshalb steht die Organisation im Fokus radikaler Abtreibungsgegner. Vor allem für evangelikale Gruppen ist Marie Stopes ein rotes Tuch.
Odion Iseki steht vor einem Schild mit der Aufschrift Laboratory
Odion Iseki arbeitet als Krankenschwester für Marie Stopes.© Kiki Mordi
Im Frühjahr 2019 beginnt eine Kampagne gegen Marie Stopes Nigeria. Im Internet werden Anschuldigungen verbreitet, die Klinik in Lagos würde illegale Abtreibungen durchführen und mehrere tausend Menschen unterzeichnen eine Petition zum Verbot von Marie Stopes. Dann, im Mai letzten Jahres, stürmt die Polizei die Klinik in Lagos.

Polizeiaktion gegen die Klinik von Marie Stopes in Lagos

"Ich erinnere mich daran, dass ich einen Patienten bei mir hatte, und in diesem Moment ist eine Gruppe von Männern in das Behandlungszimmer gestürzt, und sie haben gesagt: 'Sind Sie Dr. Bernard? Ja. Sie sind festgenommen, Sie müssen mit uns zur Wache kommen, wir haben einen Haftbefehl gegen Sie.' Ich glaube, an diesem Tag war auch jemand dabei, der an dieser Petition mitgearbeitet hatte."
Bernard Fatoye arbeitet als Arzt für Marie Stopes in Lagos. Er wird verhaftet und zur Wache gebracht. Ihm wird vorgeworfen, er habe illegale Abtreibungen durchgeführt. Die Polizisten durchsuchen die gesamte Klinik und sammeln Patientenakten ein. Der Fall erregt großes Aufsehen in Nigeria. Denn Abtreibungen stehen unter Strafe und dürfen in den meisten Regionen nur im äußersten medizinischen Notfall durchgeführt werden.
Ärzte, die wegen illegal durchgeführter Abtreibung überführt werden, können eine Gefängnisstrafe von bis zu 14 Jahren erhalten. Nach wenigen Wochen werden die Anschuldigungen gegen Fatoye fallen gelassen. Es kommt nicht zu einer Anklage. Die Polizei will sich auf Nachfrage nicht zu dem Fall äußern.
Bernard Fatoye steht mit dem Rücken zum Fotografen und schaut aus dem Fenster
Bernard Fatoye arbeitet als Arzt für Marie Stopes in Lagos.© Kiki Mordi
"Ich würde schon sagen, dass es unsere Arbeit beeinflusst. Sie haben Angst verbreitet, besonders bei Frauen. Sie lesen jetzt über Marie Stopes und dann sehen sie: Polizeieinsatz, Schließung, so etwas. Wir haben die Auswirkungen der Kampagne in dem Moment wirklich gefühlt."
Die Frau, die vermutlich für diese Attacke verantwortlich ist, heißt Ann Kioko, sie lebt in Kenia, auf der anderen Seite des afrikanischen Kontinents. Es gibt etliche Videos von ihr bei Youtube und auf Facebook. In einem sieht man, wie sie auf einem Lautsprecherwagen steht und zu hunderten Demonstrierenden spricht, die durch die Innenstadt von Kenias Hauptstadt Nairobi ziehen. Sie ruft: "Abtreibung ist illegal", und: "Sie können uns nicht zum Verstummen bringen."

Spanische NGO CitizenGo kämpft in Afrika gegen Abtreibung

Ann Kioko arbeitet für die spanische Organisation CitizenGO, eine evangelikale Gruppe, die der ultra-rechten spanischen Partei VOX nahesteht. CitizenGO ist eine Art Kampagnenplattform, die weltweit versucht, politischen Einfluss zu nehmen. Die Vertreter von CitizenGO hetzen gegen lesbische und schwule Menschen, gegen Sexualerziehung an Schulen und gegen Abtreibungen. Ann Kioko ist seit einigen Jahren für die Kampagnen in Afrika zuständig. Sie ist gut vernetzt mit anderen Organisationen und Politikern auf dem ganzen Kontinent.
Das Konzept ist einfach: Mit Hilfe lokaler Partnerorganisationen versucht CitizenGO Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben. Ihr Ziel: Restriktive Gesetze gegen Abtreibung und die Rückkehr zu einem konservativen Familienbild. Auch das erzählt Ann Kioko auf Videos, die auf Youtube zu sehen sind – wie auf diesem hier:
"Es gibt einige Lektionen, die wir von den Vereinigten Staaten oder Europa lernen können: Wenn man Abtreibungen legalisiert, wenn man Homosexualität legalisiert, dann hat das negative Auswirkungen auf die Gesellschaft."
Weder die Organisation CitizenGO noch Ann Kioko wollen mit deutschen Medien über ihre Arbeit sprechen. Dafür erklärt sich eine Partnerorganisation in Nigeria zu einem Gespräch bereit. Doktor Obi Ideh empfängt in einem großen Raum mit massiven Holzstühlen. Sie ist eine freundliche Frau, die viel lächelt, während sie spricht.
"Man muss verstehen, dass radikale Feministinnen, die Homosexuellen-Lobby und radikale Umweltschützer zusammenarbeiten, um die Lüge zu verbreiten, dass illegale Abtreibung die Müttersterblichkeit erhöht. Sie haben das im Westen so gemacht und versuchen es nun auch in Afrika."

Nigerianische Gruppen mitverantwortlich für Polizeieinsatz

Die Ärztin Obie Ideh ist Direktorin der "Foundation of African Cultural Heritage", einer Dachorganisation für nigerianische Gruppen, die sich gegen das Recht auf Abtreibung engagieren. Seit einigen Jahren arbeiten sie eng mit CitizenGO zusammen. Ideh sagt, ihre Organisation sei mitverantwortlich für den Polizeieinsatz gewesen. Das gemeinsame Ziel: Organisationen wie Marie Stopes aus dem Land zu vertreiben.
"Unter dem Vorwand, sie würden medizinische Nachsorge nach Abtreibungen anbieten, führen sie in Wahrheit illegale Abtreibungen in Nigeria durch. Über die vermeintliche Nachsorge bekommen sie Zugang, aber das ist nicht, was sie eigentlich hier wollen."
Obie Ideh sitzt auf einer Couch und schaut auf ihr Smartphone.
"Die Präsidentschaft von Donald Trump hatte einen großen Einfluss auf den Druck, den Organisationen erleben, die sich für Familie und Lebensschutz einsetzen", sagt Obie Ideh.© Kiki Mordi
Obie Idehs Organisation tritt auch beim World Congress of Families auf, einem weltweiten Netzwerktreffen radikaler Abtreibungsgegner, das zuletzt unter der Schirmherrschaft von Matteo Salvini stattfand, Italiens ehemaligem Innenminister.
Zu dem Treffen kamen rechte Politiker aus Europa, Evangelikale aus den USA und russische Oligarchen. Ihnen geht es nicht nur um Abtreibungen, sie wollen weltweit ein ultra-konservatives Geschlechterbild durchsetzen: Kriminalisierung von Homosexualität, Verbot von Sexualerziehung an Schulen und erschwerter Zugang zu Verhütungsmitteln. Es gibt diese Bewegung schon lange, doch seit Donald Trump Präsident der USA ist, gewinnt sie an Einfluss.

Pro-Life-Lobby seit Trump weltweit im Aufschwung

"Die Präsidentschaft von Donald Trump hatte einen großen Einfluss auf den Druck, den Organisationen erleben, die sich für Familie und Lebensschutz einsetzen. Besonders bei den Vereinten Nationen ist diese starke Stimme für das Leben eine wirklich große Hilfe, um mehr Geld und Unterstützung zu bekommen. Sie hilft uns, den Diskurs zu beeinflussen."
Seit Beginn seiner Amtszeit fährt Trump einen harten Kurs gegen reproduktive Gesundheit weltweit: Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Wiedereinführung der Mexico City Policy, einem Gesetz aus den 80er-Jahren. Es besagt, dass keine staatlichen Hilfsgelder an Organisationen fließen dürfen, die Informationen und Dienstleistungen zu Schwangerschaftsabbrüchen anbieten.
Weltweit fehlten im Gesundheitssektor so mit einem Schlag mehrere hundert Millionen Dollar. Auch in Nigeria sind Hilfsorganisation immer mehr auf sich gestellt.
Sybil Nmezi sitzt an ihrem Schreibtisch und schaut in die Kamera
Sybil Nmezi engagiert sich schon seit Jahren für Frauenrechte in Nigeria.© Kiki Mordi
In einem großen Raum in Lagos sitzen etwa 15 Frauen um einen Tisch, sie lassen sich mit dem Handy filmen. Das Video laden sie später bei Facebook hoch. Sie singen einen selbst geschriebenen Gospel, der Text: "Sichere Abtreibung, mein Recht, sichere Abtreibung, meine Entscheidung." Es ist ihr Versuch, das Thema Abtreibung in die Öffentlichkeit zu bringen.

Kleine Revolution: die Hotline "Ms. Rosy"

"Ich glaube daran, dass sichere Abtreibung ein soziales Thema ist, ein Thema der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Es betrifft Frauen und ihre Gesundheit, und weil wir zu Frauenrechten arbeiten, sprechen wir auch unsichere Abtreibungen an."
Sybil Nmezi. Sie ist eine der Frauen aus dem Video, sie engagiert sich schon seit Jahren für Frauenrechte in Nigeria. 2003 gründete sie eine Organisation für Frauen in Krisensituationen und hörte mehr und mehr Geschichten über unsichere Abtreibungen. 2014 startete sie deshalb ihr nächstes Projekt: Die Hotline "Ms. Rosy". Für Nigeria war diese Telefonberatung so etwas wie eine kleine Revolution, denn für viele Frauen ist Ms. Rosy der einzige Weg, um an sichere Informationen über Abtreibungen zu kommen.
Ms. Rosy soll so etwas sein wie die informierte Freundin. Sie hört sich die Probleme der Frauen an, gibt Ratschläge und erzählt es niemandem weiter. Es ist ein Luxus, den viele nigerianische Frauen nicht haben. Denn ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen sind noch immer ein absolutes gesellschaftliches Tabu.
Die Hotline ist ein automatisches Informationssystem, verfügbar in drei Sprachen. Wer Fragen hat oder Redebedarf, kann sich Tag und Nacht an eine der sieben Beraterinnen durchstellen lassen. 50 bis 70 Anrufe bekommen sie jeden Tag, im Jahr sind es mehrere tausend. Auch Nmezis Mitarbeiterinnen sagen, dass die Abtreibungsgegner in den letzten Jahren immer aggressiver geworden sind. Die Telefonberaterin Ihu Nanya sagt, nach dem Polizeieinsatz bei Marie Stopes seien auch bei ihnen verdächtige Leute aufgetaucht.
"Anfang dieses Jahres kamen ein Mann und eine Frau in unser Büro. Die Frau sagte, sie wollte ihre Schwangerschaft abbrechen und wir sollten ihr dabei helfen. Sie haben Fotos von unseren Flyern gemacht und alles mit dem Telefon aufgenommen. Also haben wir ihnen gesagt, dass wir nicht wissen, wovon sie reden, und dass wir hier keine Abtreibungen machen."
In der kleinen Wohnung in Lagos ringt Kenny noch immer mit ihrer Vergangenheit. Bis heute hat sie nicht einmal ihrer Familie von der Abtreibung erzählt. Sie hat vor allem einen Wunsch: "Es sollte einen sicheren Ort für Frauen geben, die es durchführen wollen. Ein Ort, wo wir es machen können, ohne dass wir deswegen behandelt werden wie Kriminelle."
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