Abtreibung in Polen

Keine Hilfe für vergewaltigte Ukrainerinnen

25:11 Minuten
Symbolbild: Eine junge Frau in einem dunklen Raum mit einem Lichtschein von oben.
„Die meisten Emotionen, die die Frauen begleiten, sind Angst, Traurigkeit, manchmal leiden sie unter dem Schock und erleben Traumata", sagt Aleksandra Magryta von der Frauenrechtsorganisation Federa in Warschau. (Symbolbild) © imago / Alberto Ortega
Von Jan Kummer · 15.08.2022
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Polen hat eines der strengsten Abtreibungsgesetze der EU. Vergewaltigte Ukrainerinnen, die in Polen abtreiben wollen, bekommen nur schwer Hilfe. Frauenrechtsorganisationen, die einspringen, bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone.
Aleksandra Magryta ist bei der Frauenrechtsorganisation Federa in Warschau für die Kontakte nach Deutschland zuständig. Sie kennt viele Schicksale von der Telefonhotline und beschreibt die Gefühlslage der schwangeren Ukrainerinnen so:
„Die meisten Emotionen, die die Frauen begleiten, sind Angst, Traurigkeit, manchmal leiden sie unter dem Schock, erleben Traumata, wachen mehrmals in der Nacht auf, weil sie immer wieder diese Träume erleben. Manche wollen ganz viel erzählen von ihren Erlebnissen, manche gar nicht – einfach vergessen. Manchmal sind sie dankbar, dass sie hier in Polen sind, manchmal sind sie schockiert, dass wir kein europäisches Land sind im Sinne von Menschenrechten.“
Grund ist das Abtreibungsrecht in Polen. Nach einem Urteil des Verfassungsgerichtes vom Oktober 2020 gilt de facto ein Abtreibungsverbot. Es gibt nur noch drei Situationen, in denen eine schwangere Frau legal abtreiben kann, erklärt Aleksandra Magryta:
„Die erste ist, wenn das Leben der schwangeren Frau in Gefahr ist oder wenn ihre Gesundheit in Gefahr ist. Und – die dritte Option ist, wenn die Schwangerschaft in Folge von einer Vergewaltigung oder von einer anderen illegalen Tat ist.“
Doch selbst, wenn eine Frau diese wenigen Kriterien erfüllt, heißt das nicht, dass Ärzte eine Abtreibung auch vornehmen. Das Gesetz lässt einfach zu wenig Spielraum für Mediziner und zu viel für klagefreudige Abtreibungsgegner.

Polin starb, weil Ärzte eine Abtreibung ablehnten

Vor diesem Hintergrund spielte sich im Herbst vergangenen Jahres der tragische Tod von Izabela S. in der südpolnischen Kleinstadt Pszczyna ab. Die Frau hatte in der 22. Woche Fruchtwasser verloren – der Fötus konnte nicht überleben. Die Ärzte weigerten sich aber, die Schwangerschaft abzubrechen – wahrscheinlich aus Angst vor einem Prozess.
Kurz darauf starb die Frau an einer Blutvergiftung, was in Polen eine Welle von Protesten gegen das Abtreibungsrecht auslöste. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen die Ärzte. Doch Barbara Nowacka von der oppositionellen Bürgerkoalition nimmt die Mediziner in Schutz.
„Ja, man kann sagen, die Ärzte sind schuld. Aber das hetzt letztlich nur die Mediziner gegen die Frauen auf. Wäre das Gesetz nicht so, müssten die Ärzte in Polen auch keine Angst haben. Und wäre Izabela nicht in Pszczyna ins Krankenhaus gefahren, sondern 70 Kilometer weiter nach Tschechien, würde sie noch leben."
Auf illegale Abtreibung stehen in Polen laut Gesetz bis zu drei Jahre Haft. Schuldig macht sich dabei nicht die Frau, die eine Schwangerschaft unterbricht, sondern derjenige, der ihr dabei hilft. Das kann ein Arzt sein – oder auch das Mitglied einer Hilfsorganisation wie Justyna Wydrzynska. Sie gehört zur Gruppierung „Women on Web“.
Seit April muss sie sich vor Gericht verantworten, weil sie einer schwangeren Frau Abtreibungspillen aus ihrem privaten Bestand zukommen ließ. Die Betroffene hatte sich an die Aktivistin gewandt, weil sie sich von ihrem gewalttätigen Ehemann bedroht fühlte. Offenbar kam auch die Anzeige von ihm. Der Prozess gegen Wydrzynska läuft noch, trotzdem setzt sie ihre Arbeit unbeirrt fort – etwa bei der Beratung abtreibungswilliger Ukrainerinnen:

Ukrainerinnen fragen nach Abtreibungspillen

„Seit Beginn des Militärkonflikts werden Freiwillige, die an der Grenze arbeiten, von flüchtenden Frauen nach Möglichkeiten für einen Schwangerschaftsabbruch gefragt. Wir wissen, dass es an der Grenze Flugblätter mit unserer Telefonnummer gibt, die Personen nehmen mit uns Kontakt auf, per Telefon oder Mail, und sie bekommen alle Informationen. Hauptsächlich geht es um Schwangerschaften bis zur zwölften Woche – man kann also ohne fremde Hilfe mit den Pillen abtreiben.
Die sind in der Ukraine auch erhältlich und bekannt – deshalb wollen die Frauen aus der Ukraine, die uns anfragen, eigentlich nur wissen, wie sie sie sicher bestellen können. Denn sie können nicht in ihr Land zurückkehren, um sie zu kaufen, zu bestellen oder vom Arzt zu bekommen – also bestellen sie die Tabletten nach Polen, dorthin, wo sie gerade leben.“
Warschau: Demonstrierende gegen das strikte Abtreibungsgesetz halten Plakate mit der Aufforderung zu einem Frauenstreik, Polen 06/2022.
Seit Monaten wird in Polen gegen das Abtreibungsgesetz wie hier im Juni in Warschau protestiert. © imago / ZUMA Wire / Aleksander Kalka
Für Wydrzynska sind die Abtreibungspillen das Wundermittel schlechthin. Es gebe den Frauen die Möglichkeit, eine Schwangerschaft selbstständig abzubrechen.
„Die Weltgesundheitsorganisation hat in ihrem jüngsten Bericht erneut darauf hingewiesen, dass man eine Schwangerschaft bis zur zwölften Woche selbstbestimmt mit einer Pille abtreiben kann. Die Methode sei sehr sicher. Wenn wir den Frauen eine solche Abtreibung ermöglichen, geben wir ihnen auch die Macht über den eigenen Körper: Sie sind unabhängig von den Entscheidungen der Ärzte und von Weltanschauungen, die sie in den Krankenhäusern oder beim medizinischen Personal antreffen. Sie sind einfach frei.“
Doch woher stammen diese Abtreibungspillen, wenn sich die Menschen strafbar machen, die sie in Polen vertreiben? Frauenrechtsgruppen helfen da bei der Vermittlung weiter, sagt Aleksandra Magryta von Federa – allerdings nur mit Informationen.
„Es gibt solche Organisationen, die den Frauen in Polen helfen. Das ist zum Beispiel „Women on Web“. Und man schreibt an diese Organisation. Und sie senden einfach die Tabletten. Also – sie haben ihren Sitz im Ausland. Und sie helfen den Frauen, weil sie wissen, dass es wichtig ist.“

Kostenlose Abtreibungspille von "Women on Web"

‘Women on Web‘ mit Hauptsitz in Kanada stellt die Abtreibungspillen für geflüchtete Ukrainerinnen inzwischen kostenlos zu Verfügung. Nach Angaben von Frauenrechtlerinnen wählen die meisten Frauen, auch Polinnen, diesen Ausweg, um das Gesetz zu umgehen – zum Beispiel dann, wenn der Fötus schwer krank ist. Das ist in Polen offiziell kein Grund für einen legalen Schwangerschaftsabbruch.
In einem solchen Fall müssen die Frauen nachweisen, dass der kranke Fötus ihre eigene Gesundheit in irgendeiner Weise gefährdet, psychisch etwa. Dazu brauchen sie ein psychiatrisches Gutachten, das wiederum nicht jeder Psychiater ausstellen will. Erst mit einem solchen Dokument kann ein Frauenarzt die Schwangerschaft abbrechen. Und selbst bei Vergewaltigung, einem anerkannten Abtreibungsgrund, ist das Prozedere kompliziert – und beschämend für die Opfer, sagt Aleksandra Magryta.
„Dann müssen sie das anzeigen. Dann gehen sie in die Anwaltschaft und erzählen, was sie da alles erlebt haben. Aber aus unserer Erfahrung ist das so, dass sie das nicht machen wollen. Kein Wunder.“
Laut offizieller Statistik wurden im vergangenen Jahr in Polen 107 legale Abtreibungen vorgenommen – zehn Mal weniger als vor der Verschärfung des Gesetzes. Außerdem sind mehr als 35.000 illegale Schwangerschaftsabbrüche bekannt geworden. Die Dunkelziffer dürfte aber höher sein. Wie viele Vergewaltigungsopfer unter den Ukrainerinnen sind, die in Polen abtreiben wollen, ist nicht bekannt. Die Zahlen zu diesem Thema seien hier generell unglaubwürdig, meint Frauenrechtsaktivistin Aleksandra Magryta.
„Laut Aussagen des Ministeriums für Gesundheit gab es keine Vergewaltigungsfälle für ganz Polen. Wir haben neun Millionen Frauen im reproduktiven Alter, also dass sie schwanger werden können. Neun Millionen!! Und darunter kein Fall, was für mich eine Lüge ist. Ich glaube, dass die Ärzte das anders in ihren Dokumenten definieren, also diese Abtreibung zum Beispiel wegen Vergewaltigung. Dass sie ein anderes Wort dafür benutzen, also nicht Abtreibung, sondern Fehlgeburt. Weil medizinisch betrachtet, ist das nicht zu unterscheiden, ob das Fehlgeburt oder Abtreibung ist, wenn man die Tabletten nimmt.“
Deshalb fragen die Frauenorganisationen auch nicht nach den Motiven für eine Abtreibung. Das sei für ihre Arbeit eh bedeutungslos, erklärt Justyna Wydrzynska von ‘Women on Web‘.

Immer weniger Ukrainerinnen bitten um Hilfe

„Aber das bedeutet nicht, dass wir die Gründe nicht mitbekommen! Ja, es kommt tatsächlich immer mal vor, dass sich bei uns Frauen melden, die uns sagen, dass sie vor ein paar Tagen aus dem Kriegsgebiet nach Polen gekommen seien, und dass sie vergewaltigt worden seien und davon schwanger geworden sind. Aber diese Geschichten werden weniger.
Ich denke, dass sich entweder die Situation der Frauen etwas stabilisiert hat oder dass die Hilfe jetzt direkt in der Ukraine angeboten wird. Denn wir wissen, dass Hilfsorganisationen die Abtreibungspillen auch in die Ukraine transportieren. Die betroffenen Frauen brauchen also nicht nach Polen zu kommen, um die Schwangerschaft abzubrechen – das können sie jetzt auch in ihrem Land.“
Mehrere Versuche, die Gesetzeslage für abtreibungswillige Ukrainerinnen in Polen zu entschärfen, sind inzwischen gescheitert. Die Linken etwa haben im Parlament einen Entwurf eingebracht, der die Staatsanwaltschaften zwingen sollte, innerhalb von sieben Tagen über einen Antrag auf Schwangerschaftsabbruch einer vergewaltigten Frau zu entscheiden. Bisher existiert in diesen Fällen kein zeitliches Limit. Der Antrag wurde abgelehnt. Auch ein Appell mehrerer Frauenorganisationen, darunter Federa, an den Gesundheitsminister verhallte ungehört, schildert Aleksandra Magryta:
„Wir haben gefragt und gebeten darum, dass das Ministerium vielleicht in Erwägung zieht, den geflüchteten Frauen doch mehr zu helfen als den polnischen, weil wir können uns vorstellen, dass die geflüchteten Frauen aus der Ukraine nicht unbedingt die Schwangerschaft fortsetzen wollen. Und sie sollen auch das Recht haben, die Schwangerschaft zu beenden, wenn sie wollen, weil ich jetzt in einem fremden Land lebe und keine Unterstützung habe, und ich kann mir nicht vorstellen, unter diesen Bedingungen das Kind zu haben. Wir wollten, dass die ukrainischen Frauen die gleichen Rechte haben wie in der Ukraine.
Dort ist die Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche legal. Aber das Ministerium war sehr strikt und hat geantwortet: Okay, die Frauen aus der Ukraine können die Schwangerschaft beenden, aber nur unter den juristischen Möglichkeiten, die in Polen gelten.“

Mordvorwurf von Abtreibungsgegnerin

Doch selbst die gehen vielen Abtreibungsgegnern im Land noch zu weit. Eine von ihnen ist Kaja Godek. Sie führt eine Stiftung unter dem Namen „Leben und Familie“ und wird nicht müde, Frauenrechtsgruppen anzugreifen – auch mit Blick auf schwangere Geflüchtete aus der Ukraine:
„Die Ukrainerinnen, die nach Polen fliehen, werden von feministischen Gruppen zur Abtreibung überredet. Häufig mit dem Argument: Es sei schwierig, ein weiteres Kind zu bekommen, wenn man fern der Heimat ist und schon Kinder hat. Das ist, finde ich, ein sehr schlaues Spiel, das die wahre Intention der feministischen Gruppen bloßstellt. Denn das sind Gruppen, deren Ziel es ist, möglichst viele Menschen zu töten.“
Das Gebaren der Abtreibungsgegner ging dann sogar der erzkonservativen Regierung in Warschau zu weit. Sie rügte die Stiftung „Leben und Familie“ für Flyer mit der Aufschrift „Abtreibung ist Mord“. Darin sollten ukrainische Frauen darüber informiert werden, dass in Polen eine Abtreibung unmöglich ist.

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