Aby Warburg: Bilderatlas Mnemosyne. The Original
Herausgegeben von Haus der Kulturen der Welt, Berlin, The Warburg Institute, London, Roberto Ohrt, Axel Heil
184 Seiten, 200 Euro
Europas Bildgedächtnis auf 63 Tafeln
07:25 Minuten
Was sagen uns Bilder und wie werden sie kulturübergreifend weitergegeben? Der Kunsthistoriker Aby Warburg studierte diese Frage. Herausgekommen ist der Bilderatlas "Mnemosyne", der nun als ein großformatiges Buch der Extraklasse rekonstruiert ist.
Benannt nach der griechischen Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen verweist bereits der Name "Mnemosyne" darauf, dass für Aby Warburg Kultur der Ort der Erinnerung und der Bewahrung von Geschichte war. 1866 in Hamburg als Spross einer jüdischen Bankiersfamilie geboren, hatte er über den Maler Sandro Botticelli promoviert. Die Renaissance sollte ein Fixpunkt seiner Forschung bleiben. Allerdings stand für ihn im Zentrum die Frage, wie sich diese Wiedergeburt der Antike vollzog.
Wie konnte die antike Bildwelt in den gesamten mitteleuropäischen Raum und das Mittelalter in die Renaissance führen? Welche Bildformeln, welche Archetypen fanden über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg Verwendung, welche Ideen blieben dabei konstant, was wurde transformiert? Wie und in welchen Formen erinnern wir?
Eine Anordnung in Tafeln
Die Spurensuche führte ihn dabei auch zu Zeugnissen der Populärkultur und darüber hinaus. Spielkarten oder Werbung interessierten Warburg ebenso wie alte Handelsrouten. Sein Ziel war, das "Bildgedächtnis" der europäischen Kultur in seinen wichtigsten Themen und Motiven zu rekonstruieren. Dazu plante er in seinen letzten Lebensjahren eine umfangreiche Publikation: den Typen- oder Bilderatlas "Mnemosyne".
Zur Vorbereitung ließ Aby Warburg große, mit schwarzem Stoff bespannte Tafeln anfertigen, auf die er Abbildungen von Kunstwerken wie Botticellis "Geburt der Venus" oder Manets "Frühstück im Grünen" neben Postkarten, Zeitungsausschnitten, Briefmarken oder Buchseiten anordnete und immer wieder umsortierte. Als er starb, gab es 63 dieser Tafeln, die ebenso wie Vorgängerversionen in Form von Schwarzweiß-Glasnegativen überlebten. Diese wurden in der Vergangenheit auch veröffentlicht und sind über die Webseite des Londoner Warburg Institute zugänglich.
Doch vermitteln die historischen Aufnahmen nur ein eingeschränktes Bild von Warburgs Arbeit. Dass manche der Fotografien beispielsweise handkoloriert waren, ist nicht ersichtlich.
Daher machten sich der Kunsthistoriker Roberto Ohrt und der Künstler Axel Heil im Archiv des Warburg Institute auf die Suche nach dem originalen, von Warburg verwendeten Bildmaterial, um die Tafeln zu rekonstruieren. Es sind diese rekonstruierten Tafeln, die für den jetzt veröffentlichten "Bilderatlas MNEMOSYNE. The Original" fotografiert und um detaillierte Angaben ergänzt wurden.
Zum Studieren auf dem Tisch
Herausgekommen ist ein Band im XXL-Format, der mit passender Stofftasche geliefert wird. Allerdings empfiehlt es sich weniger, das 44 mal 60 Zentimeter große Werk herumzutragen, als vielmehr es auf einen Tisch zu legen und zu studieren. Die Größe ist kein schierer Luxus, sondern – in Verbindung mit einer hervorragenden Bildwiedergabe – Voraussetzung, um nachzuvollziehen, was Warburg im Sinn hatte.
Zu den Bildformeln, die er vor Augen führen wollte, gehören beispielsweise Gesten der Trauer von Antike bis Renaissance: Von Darstellungen klagender Mütter auf römischen Sarkophagen bis "Orpheus und Eurydike" in Tempera und Öl aus dem 15. Jahrhundert.
Auf einer anderen Seite vereinte er Illustrationen, die das Verhältnis des Menschen zu kosmischen Systemen zeigen: Mit Tierkreiszeichen, allgemein kosmischen Gewalten oder Proportionsgesetzen. Neben der mittelalterlichen Darstellung einer Vision der Heiligen Hildegard von Bingen erscheint als jüngerer Verwandter u.a. Leonardos "Vitruvianischer Mann". Kreisformen umgeben die menschliche Figur und man sieht, wie ähnlich dieses Thema über Hunderte von Jahren, nördlich wie südlich der Alpen, behandelt wurde.
In die Gegenwart geholt
Dass Warburg mit einer derart assoziativen Herangehensweise unter seinen Kollegen umstritten war, verwundert nicht. Auch sein "Mnemosyne"-Projekt zielte nicht auf wissenschaftliche Exaktheit, sondern auf Annäherung, auf die Eröffnung von Denkräumen. Mag sein, dass er es nie hätte abschließen können, weil endlose Variationen denkbar sind.
Aber wie er sich jenseits kunsthistorischer Klassifizierungen einen Weg bahnte durch eine überbordende Bildgeschichte – im Grunde mit der Kinderfrage "Warum sehen die Bilder so aus, wie sie aussehen?" – ist noch immer ein Augenöffner. Ein Glück, dass dieser Ansatz mit der Rekonstruktion seiner letzten Fassung des "Mnemosyne-Atlas" und deren Publikation jetzt aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt wurde.