"Ach was, der Rias lügt!"

Von Dettmar Cramer · 21.01.2006
RIAS Berlin, der Rundfunk im amerikanischen Sektor, hat wie keine andere Anstalt in Deutschland Geschichte geschrieben. Man nehme nur Stefan Heyms "5 Tage im Juni", wo er den RIAS und eben keine andere deutsche Rundfunkanstalt, gleich sechsmal ausführlich zum 17. Juni 1953 zittert mit Beiträgen, die noch heute Bestand haben und zugleich Zeugnis ablegen von der Bedeutung des Senders während der deutschen Teilung.
Noch Jahre nach dem Ende der DDR schimpfte das einstige SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" und unterstrich damit - sicherlich ungewollt - die Rolle des RIAS für den Zusammenhalt der Menschen: "Was man mit ‘Informationen‘ (dies in Anführungszeichen) machen kann, wurde 1953 wohl am deutlichsten. Wenn sich der Kalte Krieg irgendwo im Äther austobte, dann im RIAS", hieß es dort noch 1994. Russen haben das offensichtlich stets anders gesehen.

Als Nikolai Portugalow, von dem manche behaupten, er sei außer ZK-Mitarbeiter auch General des GRU, des sowjetischen Militärischen Abschirmdienstes, gewesen, zu Gast im RIAS war und nach einer Begegnung mit dessen Intendanten Ludwig von Hammerstein plötzlich dem damaligen amerikanischen Chairman Patrick E. Nieburg gegenüberstand und ihm vorgestellt wurde, fragte Portugalow diesen, ob sein Vater Industrieminister im zweiten Kabinett Kerenski gewesen sei. Der Amerikaner, dessen Familie baltisch-schwedischer Abstammung war, bejahte die Frage des Russen. Die Sowjets hatten eben ein unverkrampftes Verhältnis zur Geschichte, mochten sie diese auch für ihre Zwecke zuweilen instrumentalisieren.

In den von Heym abgedruckten RIAS-Berichten bis hin zum Kommentar Egon Bahrs, damals Chefredakteur des Senders, war nicht einer, der vom Geist des Kalten Krieges geprägt gewesen wäre, sondern allein von Sachlichkeit und Vorsicht. "Es wäre ein Kleines gewesen, durch einen flammenden Aufruf West-Berlin auf die Beine zu bringen, und wer hätte sich versagt? Es ist historisch, dass dies nicht geschah" so Bahr am 18. Juni 1953. Diese Grundhaltung war es, die den Ruf und den Einfluss des RIAS auf die Hörer In der Zone begründeten.

Wenn man, versehen mit einem westdeutschen Pass, wieder einmal den Übergang Heinrich-Heine-Straße nach Ost-Berlin benutzte, konnte es einem passieren, dass eine der älteren Zoll-Beamten bei der Durchsuchung des Wagens nach verbotenen Dingen wie etwa Zeitungen - sprich westlichen Druckerzeugnissen - einem zuraunte: "Ich habe Sie gestern gehört". Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Kein Zweifel, der Einfluss des RIAS auf die Hörer drüben war groß! Noch heute wird man in den neuen Bundesländern daraufhin angesprochen. An den Rändern der einstigen DDR, von Görlitz über Dresden bis zum Nordosten der Republik, überall dort, wo das West-Fernsehen nicht hinkam, waren RIAS und Deutschlandfunk oft die einzigen Informationsquellen.

Noch 1988, also kurz vor ihrem Ende, wurden diesem "Feindsender" - neben Deutschandfunk und Sender Freies Berlin - längere Passagen in dem als "Vertrauliche Verschlusssache" von der Juristischen Hochschule Potsdam, einer Einrichtung des Ministeriums für Staatssicherheit herausgegebenen "Lehrbuch - die politisch-ideologische Diversion gegen die DDR" - so sein offizieller Titel - gewidmet." Der Sendeauftrag des RIAS ist darauf gerichtet, subversiv ideologisch in die DDR zu wirken. Darüber hinaus ist er beauftragt - wie in der Vergangenheit mehrfach praktiziert - aktiv am Hervorrufen von konterrevolutionären und bei der Steuerung von feindlich-negativen Kräften im Inneren sozialistischer Staaten mitzuwirken", so einige der Mark- und Kernsätze aus jenem "Lehrbuch".

Wie nachhaltig der Einfluss des Rundfunks im amerikanischen Sektor gewesen war, ging aus einer Episode Ende der neunziger Jahre hervor. In der Dresdner "Herkuleskeule" fand ein Rückblick auf vergangene DDR-Zeiten statt, wobei auch auf den RIAS Bezug genommen wurde. "Ach was, der RIAS, der lügt", befand der den DDR-Part spielende Kabarettist - unter schallendem Gelächter des Publikums. Lächerlichkeit tötet - auch im Fall der so plötzlich von der politischen Bühne verschwundenen DDR. Schade nur, dass man einen so großen Namen wie den des RIAS ohne Not gleich mit aufgegeben hat.

Dr. Dettmar Cramer wurde 1929 in Görlitz/Schlesien geboren. Nach dem Abitur studierte er Rechtswissenschaften. Anfang 1960 ging Cramer zur "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"; 1975 wechselte er zum Rundfunksender RIAS Berlin, dessen Chefredakteure er später wurde. Mitte 1986 kam Cramer zum Kölner Deutschlandfunk. Zunächst als Chefredakteur tätig, dann als DLF-Programmdirektor und schließlich als Intendant bis zum Zusammenschluss mit dem RIAS und DS-Kultur zum gemeinsamen Deutschlandradio. Cramer ist Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande.