"Diese Unterstellung trifft mich in meiner Seele"
Dem Philosophen Achille Mbembe wird vorgeworfen, er relativiere den Holocaust und bestreite das Existenzrecht Israels. Im Interview weist er die Vorwürfe zurück. Und fragt: Was bedeutet es für Deutschland, wenn Stimmen aus den ehemaligen Kolonien so leichtfertig verdächtigt werden?
Am 23. März richtete Lorenz Deutsch, kulturpolitischer Sprecher der FDP im Landtag von Nordrhein-Westfalen, einen Offenen Brief an die Intendantin der Ruhrtriennale, Stefanie Carp: Sie möge die Festival-Einladung an den Philosophen Achille Mbembe überdenken. Denn dieser unterstütze die Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions), die der Bundestag als antisemitisch einstuft. Inzwischen ist das Festival abgesagt. Und inzwischen kursieren maximale Vorwürfe gegen Mbembe: Antisemitismus, Relativierung des Holocaust, er bestreite das Existenzrecht Israels.
Achille Mbembe – 1957 in Kamerun geboren, Professor an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, Südafrika – ist ein weltweit angesehener Postkolonialismus-Forscher. Nicht wenige seiner Leser reagieren mit Unverständnis auf die Vorwürfe. "Das hat gewisse Kennzeichen einer Hexenjagd", sagt etwa Andreas Eckert, Historiker an der Berliner Humboldt-Universität. "Weil die Textpassagen, die an diesen Vorwurf gehängt werden, den Vorwurf des Antisemitismus, den Vorwurf der Relativierung des Holocaust, den Vorwurf, das Existenzrecht Israels abzusprechen, einfach nicht hergeben."
Was sagt Achille Mbembe selbst dazu? Mündlich mochte er diese Frage nicht beantworten – wohl aber per E-Mail.
René Aguigah: Die aktuellen Vorwürfe gegen Sie setzten ein, indem der Düsseldorfer Landtagsabgeordnete Lorenz Deutsch (FDP) behauptet hat, Sie seien ein "prominenter Vertreter (…) der in ihrem Kern antisemitischen BDS-Bewegung". Wie würden Sie Ihre Beziehung zu BDS charakterisieren?
Achille Mbembe: Lassen Sie mich das ein für alle Mal sagen: Die Wahrheit ist, dass ich keinerlei Beziehung mit BDS habe. Ich bin in keinerlei politischen Organisation Mitglied. Ich muss fest darauf beharren, dass dies mein Recht ist, und niemand wird es mir nehmen.
So befremdlich es klingen mag, meine zentralen politischen Vorstellungen kommen aus einer sehr tiefen Überzeugung. Ich bin der Ansicht, dass es bestimmte Dinge gibt, die menschliche Wesen anderen menschlichen Wesen nicht antun können. Auf dieser Grundlage wende ich mich fest gegen Antisemitismus, alle Formen von Rassismus und Diskriminierung ebenso wie gegen Kolonialismus und andere historische Formen von Entmenschlichung.
Die Unterstellung, ich könnte Hass oder Vorurteile gegenüber irgendeinem anderen menschlichen Wesen oder irgendeinem verfassten Staat hegen, trifft mich als solche in meiner Seele.
Der globale Kampf gegen Antisemitismus ist eine gemeinsame Aufgabe. Er wird gelingen, wenn in seinem Kern die höchsten ethischen und universalen Prinzipien gelten. Ich anerkenne die Rolle, die Deutschland in diesem Kampf einnimmt, ausdrücklich auch die Aufgabe von Herrn Felix Klein (Anmerkung der Redaktion: Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus). Aber man sollte diesen Kampf nicht verwechseln mit einem Angriff gegen bestimmte Traditionen kritischen Denkens und fortschrittlicher Politik. Vielleicht sollten wir uns fragen, was es bedeutet, wenn Stimmen aus den ehemals kolonisierten Welten in zumindest leichtsinniger Weise verdächtigt werden? Wäre es im Interesse Deutschlands, wenn diese Stimmen und auch meine nicht mehr in Deutschland zur Sprache kommen könnten?
Noch einmal, der globale Kampf gegen Antisemitismus, das Wiederaufleben von Neo-Nazismus und andere Formen von Rassismus weltweit erfordern äußerste Wachsamkeit. Ich fürchte, die Angriffe, die auf mich gerichtet sind, spalten diese gemeinsame Wachsamkeit eher, statt uns im Kampf gegen den Antisemitismus zu vereinen. Ich stelle mir die Frage, ob er dadurch nicht am Ende Schaden nehmen könnte.
Es geht nicht um Israels Existenzrecht
So weit es mich betrifft, möchte ich meine Weigerung wiederholen, mit Institutionen oder Individuen zusammenzuarbeiten, die in Völkerrechtsverletzungen oder Menschenrechtsverletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten verstrickt sind. Diese Weigerung zur Zusammenarbeit hat nichts mit Antisemitismus zu tun, es sei denn, der Begriff würde jeder moralischen Bedeutung entleert. Noch hat sie irgendetwas damit zu tun, das Existenzrecht Israels zu bestreiten.
Außerdem hat eine angemessene Kritik von Kolonialismus und Rassismus nichts mit der Relativierung des Holocaust zu tun. Tatsächlich ist eine solche Kritik ein Schlüsselelement im Kampf gegen Antisemitismus. Solch eine Kritik ist absolut notwendig für diejenigen, die aufrichtig zu verstehen versuchen, wie unsere moderne Welt wurde, was sie heute ist, und wie wir sie gemeinsam reparieren können. Das ist es jedenfalls, worum es in meiner Arbeit geht ebenso wie in den theoretischen Perspektiven, mit denen ich mich identifiziere.
Dass Stimmen und Ansätze wie diese in Deutschland – um das Mindeste zu sagen – leichtfertigen Angriffen ausgesetzt werden können, ist die wirkliche Frage, die wir dringend adressieren müssen. Was sagt das aus über den inneren Zustand dieses Landes? Deutschland ist für viele Leute in der Welt ein Land der Hoffnung geworden. Auch dank dreier Schlüsselprinzipien eines liberalen Staates, die es versucht hat, nach dem Zweiten Weltkrieg aufrechtzuhalten: die Freiheit des Gewissens, die Freiheit der Meinungsäußerung und Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Letztendlich sind diese Grundsätze mit die kraftvollsten uns zur Verfügung stehenden Waffen, wenn wir es ernst damit meinen, Antisemitismus und Rassismus niederzuringen, die Welt zu reparieren und für alle zu öffnen, die in ihr leben.
René Aguigah: Gehörten Sie vor zehn Jahren zu den Unterstützern einer BDS-nahen Petition, wie Ihnen vorgeworfen wird?
Achille Mbembe: Diese Petition ist nicht von BDS entworfen worden, sondern von einer großen Gruppe angesehener südafrikanischer Wissenschaftler*innen, aufmerksam gegenüber ihrer eigenen Geschichte von Rassenunterdrückung und -kampf, aber auch dem Projekt von Wahrheit, Vergebung und Versöhnung verpflichtet. Das ist tatsächlich der ethische und moralische Rahmen, innerhalb dessen Südafrika als Land sich mit dem Rest der Welt verbindet.
Manifestation der Gewissensfreiheit
Was mich betrifft, ist, eine Petition zu unterstützen oder nicht, vollständig eine Angelegenheit von privatem Gewissen und Überzeugung. In Südafrika, wo ich lebe und arbeite, genauso wie in vielen Teilen der Welt, war eine Petition zu unterstützen, jegliche Petition, vor zehn Jahren kein Verbrechen. Gott sei Dank ist das auch heute kein Verbrechen, solange die Petition nicht zu Gewalt aufruft oder zum Sturz einer fremden Regierung, und sie keine Plattform für die Propaganda von Hass und Vorurteil ist. Das Recht, die Obrigkeit mit Petitionen zu adressieren oder eine Anfrage an sie zu richten, ist eine mächtige Form friedlicher, freier Meinungsäußerung und eine Manifestation der Gewissensfreiheit. Dass alle liberalen Gesellschaften danach streben, dieses Recht zu schützen, ist etwas, wofür wir alle kämpfen sollten. In Südafrika ist das Recht, friedlich zu protestieren, von der Verfassung garantiert. Wir sind eine der Protest-Hauptstädte in der Welt, und beinahe jeder Protest mündet in ein Memorandum oder eine Petition, die die staatlichen Stellen gebeten sind anzunehmen und darauf zu antworten.
René Aguigah: Der Verlauf der Debatte legt nahe, Sie zu fragen: Wie würden Sie aus Ihrer Sicht die Bedeutung des Holocaust beschreiben?
Achille Mbembe: Im Angesicht des Holocaust war meine Haltung immer eine der Stille, der Meditation und des Gebets. Diese Haltung beruht auf meiner Beschäftigung mit Emmanuel Levinas, Herman Cohen, und vor allem Franz Rosenzweigs "Stern der Erlösung". In der Tiefe der afrikanischen und auch anderer Formen der Spiritualität habe ich den Mut fassen können, mich der Nacht zu stellen, die über die Welt an Orten wie Auschwitz hereingebrochen ist. Später las ich auch W.E.B. Dubois‘ Reflexionen nach seiner Reise ins Warschauer Ghetto.
Ich verdanke auch viel der Lektüre eines unserer größten Dichter, Leopold Sedar Senghor. In seiner Gedichtsammlung "Hosties noires" (Schwarze Hostien), veröffentlicht 1948, meditiert Senghor über seine persönliche Erfahrung während der schändlichen Zeit der Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. Er selbst verbrachte 19 Monate in einem Nazi-Lager für französische koloniale Kriegsgefangene. Das war im Frontstalag 230, auch bekannt als "Camp de la Chauvine". Dort wurden einige der schwarzen afrikanischen Gefangenen gehalten, die man als "Tirailleurs" kennt, die in einer Zeit der Dunkelheit zur Rettung Europas kamen. Es ist eine Dichtung, die ein zwingendes Gefühl für Hoffnung vermittelt. Zusammengenommen sind das die Texte, die mir geholfen haben, eine persönliche Haltung im Angesicht des Holocaust zu bilden.
René Aguigah: Und was erwidern Sie, wenn Sie als "Holocaust-Relativierer" bezeichnet werden, wie etwa in der "Welt" vom vergangenen Wochenende?
Achille Mbembe: Widerwärtig. Selten in meinem Leben wurde ich so verletzt. Sie haben nicht mich gesehen. Ich fürchte, sie scheren sich kaum um Stimmen wie meine, noch darum, woher wir kommen und wohin wir unterwegs sind. Ich fürchte, sie sehen in mir kein menschliches Wesen, das in der Lage ist, eigenständig zu denken und seinem eigenen moralischen Gewissen entsprechend zu handeln. Also haben sie schnell eine Maske erfunden. Ich habe dieses Phänomen in einem meiner Bücher einmal mit dem Begriff "Neger" beschrieben. (Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft, Suhrkamp 2013. Das Buch ist 2016 auch in einer Ausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen) Und nun sieht es so aus, als ob ich in Wahrheit nichts als ein "Neger" sei, ein Antisemit von einem "Neger"! Selten habe ich mich in meinem ganzen Leben so verletzt und respektlos behandelt gefühlt.
Der Holocaust ist einzigartig und bestürzend
René Aguigah: Was bedeuten in Ihren Augen die Begriffe "Singularität" und "vergleichende Forschung" im Zusammenhang mit dem Holocaust beziehungsweise von Völkermorden?
Achille Mbembe: Ich kenne keinen zurechnungsfähigen Menschen, der das Vorhaben der Vernichtung der Juden, das in Deutschland ins Werk gesetzt wurde, nicht als etwas so Einzigartiges und Bestürzendes begreift, dass es nicht nur die Deutschen, sondern die Menschheit als Ganze einschließt. So habe ich das in meiner frühen Kindheit bereits in Kamerun gelernt. Ein Land übrigens, das, nebenbei gesagt, selbst eine frühere deutsche Kolonie war, in der nacheinander mehrere Kolonial-Gouverneure, darunter Gouverneur Jesko von Puttkamer, für einige Gräueltaten verantwortlich waren.
Lassen Sie mich wiederholen, dass ‚vergleichende Kolonialismusforschung‘ ein pulsierender Unterbereich von moderner Geschichte ist. Man mag darauf auf sehr kritische Weise schauen, und ich würde die Gelegenheit, darüber zu debattieren, schätzen. Er unterscheidet sich, soweit ich weiß, von der Holocaustforschung. Wie schon gesagt, Kolonialismus und seine Nachwirkungen zu studieren, hat nichts damit zu tun, den Holocaust zu leugnen oder zu relativieren. Es ist schlicht falsch oder einfach ignorant, einen solchen Vorwurf zu machen.
René Aguigah: Sehen Sie eine Verbindung zwischen Kritik an der israelischen Regierung einerseits und dem Vorwurf des Antisemitismus andererseits?
Achille Mbembe: Die schärfsten Kritiker der israelischen Regierung sind selbst Israelis. Wenn jede Kritik der israelischen Regierung gleichbedeutend mit einer Äußerung von Antisemitismus wäre, dann wäre fast ein Drittel der israelischen Bürger, obwohl selbst Juden, antisemitisch.
René Aguigah: Welches Ihrer Bücher sollten Ihre Kritiker lesen?
Achille Mbembe: Diejenigen, die sich dafür interessieren, sollten gern mein ganzes Werk lesen. Ich glaube, es hat eine grundlegend humanistische Inspiration und eine mitunter tief spirituelle und poetische Tonlage. Vielleicht kann es beitragen zu einer Weiterentwicklung in Weisheit und Großzügigkeit.
Sie werden nicht eine einzige Spur Hass oder Vorurteil darin finden oder irgend einen Aufruf zu Gewalt. Noch werden Sie Ressentiment oder jeglichen Aufruf zu Rache finden. Vielmehr werden Sie eine Stimme hören, die offen für die Welt ist und allen gegenüber, die darin leben, die sensibel ist für menschliches Leiden und Elend, und die gewissenhaft im Interesse der Kräfte des Lebens in den Zeugenstand tritt, Vergebung, Widerstand, Hoffnung und Versöhnung. Dies, sollte ich hinzufügen, ist das Geschenk, das die südafrikanische Erfahrung mir gemacht hat. Ich versuche, dieses Geschenk zu teilen und werde das weiterhin tun.
Übersetzung: René Aguigah