80 Jahre nach der Nazi-Herrschaft

Wie lassen sich Holocaust und NS-Diktatur in Schulen vermitteln?

Ein ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Sachsenhausen zeigt Schülerinnen Fotos und Dokumente.
Bei einer Gedenkveranstaltung 2015 zeigt ein ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Sachsenhausen Schülerinnen Fotos und Dokumente. Mittlerweile gibt es immer weniger Zeitzeugen der Schoah. © picture-alliance / dpa / Michael Hanschke
Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird es immer schwieriger, jungen Menschen zu vermitteln, wie die Nationalsozialisten einst die Macht ergreifen konnten und es zur Schoah kam. Historiker fordern neue Ansätze für das Bildungssystem.
Scham, Betroffenheit, Verantwortung - aber auch Gleichgültigkeit bis hin zur Leugnung: Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland steht in einem Spannungsverhältnis. In manchen Familien ist Aufarbeitung bis heute kaum oder gar nicht geschehen. 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs schwindet zudem die Zahl der Zeitzeugen und es wird immer herausfordernder, die Erinnerung aufrechtzuerhalten.
Wie kann es gelingen, 80 Jahre nach der Nazi-Herrschaft die deutsche Geschichte besser an junge Menschen heranzutragen?

Nicht genug Zeit für NS-Geschichte im Lehrplan?

Wird die Geschichte des Nationalsozialismus ausreichend an Schulen behandelt? Nein, sagt beispielsweise der Historiker Martin Cüppers. Studierende würden oft mangelhaftes Wissen mitbringen, wenn sie an Universitäten und Hochschulen kommen. Cüppers forscht und lehrt an der Forschungsstelle Ludwigsburg zur Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus. Nach Vorlesungen über das Ausmaß der Schoah in Osteuropa seien Studierende oft fassungslos, dass sie das Thema nicht im Schulunterricht vermittelt bekommen hätten.
Das Problem sehen auch Lehrkräfte. Die Gymnasial-Lehrerin Andrea Obdenwinkel sagt, dass in ihrem Unterrichtsplan umgerechnet gerade mal zwei Stunden dafür bleiben, den Holocaust zu thematisieren.
Allerdings können Schulen eigene Schwerpunkte setzen und der Geschichte des Nationalsozialismus mehr Raum geben als im Lehrplan vorgesehen. Ein ehemaliger Schulleiter einer Gemeinschaftsschule aus Erfurt berichtet, dass die Schule im Rahmen eines Demokratiekonzeptes den Holocaust unabhängig vom Lehrplan jedes Jahr in allen Klassenstufen behandelt habe.
Insgesamt gehen Forscher davon aus, dass das Interesse und die Bereitschaft bei jungen Menschen, mehr über die nationalsozialistische Vergangenheit zu lernen, groß ist. Doch es komme darauf an, die richtigen Zugänge zum Thema zu finden.

Virtuelle Zeitzeugen, Graphic Novels und Theater

80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es immer weniger Zeitzeugen. Es müssen also neue Ansätze gefunden werden, um die Geschichte des Nationalsozialismus an nachfolgende Generationen zu vermitteln. Neben dem Geschichtsunterricht besuchen Schulklassen Ausstellungen und KZ-Gedenkstätten, schauen sich Filme an und lesen Bücher über die NS-Diktatur und die Schoah.
Doch auch Kunst kann Zugang zur Geschichte ermöglichen. Das NS-Dokumentationszentrum in München bietet etwa theaterpädagogische Workshops an oder erstellt mit Jugendlichen Graphic Novels. Solche Formate seien sehr erfolgreich, weil Jugendliche sich selbst einbringen könnten, anstatt nur Informationen zu rezipieren, sagt Kerstin Bauer vom NS-Dokumentationszentrum München.
Die eindringlichen Erzählungen von Zeitzeugen lassen sich zwar nur schwer ersetzen. Der Verband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands schlägt aber vor, mehr auf "Zweitzeugen" zu setzen - also Kinder von Nazi-Funktionären oder Holocaust-Opfern an Schulen einzuladen.
Darüber hinaus wächst die Zahl an Projekten, in denen etwa mittels künstlicher Intelligenz die Berichte von Zeitzeugen wachgehalten werden.

Zu wenig Aufklärung auf TikTok

Insbesondere die sozialen Medien stellen pädagogische Fachkräfte vor Herausforderungen. TikTok etwa wird von Jugendlichen intensiv konsumiert. Dominiert wird die Plattform von rechtsgerichteten Akteuren sowie unwissenschaftlichen und teilweise propagandistischen Kanälen, sagt die Historikerin Steffi de Jong, die an der Universität Trondheim in Norwegen lehrt. Bildungsakteure und klassische Medien seien dagegen auf TikTok viel zu wenig präsent.
Auch Sarah Stemmler von der Bildungsstätte Anne Frank warnt vor der Videoplattform: "Gerade auf TikTok werden junge Menschen sehr viel mit Antisemitismus, mit Rassismus, mit anderen abwertenden Ideologien konfrontiert. Sie können diese nicht direkt so einordnen und reproduzieren dann eben auch viel Problematisches." Das geschehe immer wieder auch im Unterricht, wie eine kürzlich durchgeführte Umfrage der Bildungsstätte unter Lehrkräften gezeigt habe. Lehrkräfte seien überfordert, angemessen darauf zu reagieren.
Steffi de Jong sieht in den sozialen Medien aber auch große Potenziale. Zum Beispiel hätten sie der LGBTQI-Plus-Community zu mehr Sichtbarkeit verholfen.

Geschichte in Familien aufarbeiten

In der Aufarbeitung des Nationalsozialismus habe im öffentlichen Raum lange Zeit die Perspektive der Opfer im Fokus gestanden, sagt Historiker Martin Cüppers. Das sei wichtig. Doch es führe auch zu einem verkürzten Verständnis davon, was den Nationalsozialismus erfolgreich gemacht habe und wie es zum Völkermord an den Juden kommen konnte.
Historikern wie Steffi de Jong und Martin Cüppers zufolge sei unsere Erinnerungskultur dadurch etwas festgefahren. Oft reduziere sie sich auf Schlagworte und floskelhafte Aussagen wie „Nie wieder“. Stattdessen brauche es mehr Auseinandersetzung mit der Täterperspektive: Denn ohne Täter hätte der Nationalsozialismus nicht funktioniert. Laut der Forschungsstelle Ludwigsburg waren mehrere Hunderttausend Täter unmittelbar oder mittelbar an den Verbrechen beteiligt.
Gerade hier liegt bei vielen Deutschen aber eine verzerrte Perspektive vor: Einer Studie des Antisemitismusforschers Andreas Zick aus dem Jahr 2018 zufolge, haben 69 Prozent der Befragten angegeben, dass ihre Vorfahren keine Täter während des Zweiten Weltkrieges waren.
Eine persönliche Auseinandersetzung in den Familien habe meist bis heute nicht stattgefunden, sagt der Leiter des Hauses der Geschichte Harald Biermann. Das wirke sich bis in die vierte Generation aus. Junge Menschen dürften sich trauen, nachzuforschen, ob Großeltern oder Urgroßeltern in die Verbrechen involviert waren.

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