Ádám Bodor: „Die Vögel von Verhovina“
© Secession Verlag
Endzeitroman ohne Erlösung
06:27 Minuten
Ádám Bodor
Aus dem Ungarischen übersetzt von Timea Tankó
Die Vögel von Verhovina. Variationen über letzte TageSecession, Zürich 2022302 Seiten
28,00 Euro
Im abgelegenen Verhovina geschehen beunruhigende Dinge: Flüsse treten über die Ufer, Fremde tauchen auf und Menschen kommen auf bizarre Weise zu Tode. Doch das Leben geht weiter seinen unerschütterlichen Gang.
Inmitten von Nebelschwaden, schweflig-faul riechenden Warmwasserquellen und den unförmigen Abräumhalden aufgelassener Bergwerke liegen die wenigen Häuser von Verhovina. Hin und wieder trifft ein Zögling aus der Besserungsanstalt von Monor Gledin ein, angefordert vom mächtigsten Mann des Dorfes, dem Brigadier der Wasseraufsichtsbehörde Anatol Korkodus. Manchem Zögling erteilt er einen unbekannt bleibenden Befehl, der diesen und mit ihm sein Opfer auf Nimmerwiedersehen verschwinden lässt.
Die Lokalbahn, ein Güterzug mit einem angehängten Waggon dritter Klasse, soll bald eingestellt werden. Das Tal, heißt es, sei in Gänze verkauft worden. Fremde tauchen auf, die dem Brigadier zu widersprechen wagen, und dessen Vorgesetzte erscheinen nicht mehr zum jährlichen Besuch. Aber noch bringen die von Pferden gezogenen Tankwagen die Waren aus der Stadt im Tausch gegen Thermalwasser. Noch geht alles seinen düsteren Gang in Verhovina.
Großes Unheil kündigt sich an
Ádám Bodors Roman „Die Vögel von Verhovina“ trägt den Untertitel „Variationen über die letzten Tage“. Ein Ehepaar hat einige Dorfkinder mit Draht umwickelt und diesen mit der Steckdose verbunden. Ein Dammwächter und sein Hund werden im winterlichen Wald von der pickligen, zwergenhaften Geliebten aufgeknüpft. Der Brigadier Anatol Korkodus kehrt gefroren in der Kutsche zurück, mit der er aufgebrochen war.
Es sind ungewöhnliche und äußerst sparsam motivierte Tode, die nichts am Leben in der Abgelegenheit ändern. In ihrer Ausgefallenheit, ja, Erlesenheit sind sie nur Zeichen für ein noch größeres Unheil, das am Ende der letzten Tage dräut.
Grausamkeit des Details
Der 1936 im damals ungarischen, heute rumänischen Siebenbürgern geborene und seit den frühen 1980er-Jahren in Ungarn lebende Bodor verbindet in seinem von Timea Tankó atmosphärisch ins Deutsche übertragenen Roman aus dem Jahr 2011 mehrere literarische Topoi: die abgelegene, im Niedergang befindliche Provinz der K.u.k.-Spätzeit, die ferne unnahbare Behörde eines Franz Kafka, die unabwendbare Katastrophe in den frühen Romanen von Bodors Landsmann László Krasznahorkai.
Anders als bei Krasznahorkai geht es bei Bodor nicht um die Menschen, sondern um einen Weltzustand, nicht um größere narrative Einheiten, sondern um kurze Formen, nicht um Entwicklungen, sondern um Details. Erzählt wird nicht der Tod des Brigadiers, jedoch von seinem Grab in der neunten Thermalquelle, die die Leiche – neben einem zufällig hineingefallenen Frischling – in überirdischer Bläue konserviert.
Starke, aber statische Atmosphäre
Der Detailgenauigkeit korrespondiert eine Gesamtwolkigkeit. Verhovina liegt irgendwo zwischen Lemberg, Czernowitz und dem rumänischen Bistritz. Welche Sprache man dort spricht, bleibt unklar; ein Zögling liest einer alten Dame ungarische Bücher vor, obwohl er die Sprache kaum und sie gar nicht beherrscht.
Die Vorgesetzten des Brigadiers sind ein Unterpräfekt, ein Hauptmann und ein Hilfsbischof. Pferdekutschen sind gebräuchlicher als Verbrennungsmotoren. Nahe bei Verhovina werden in einem Lager lüsterne Frauen jeden Alters interniert, betreut von einem Pfarrer mit gleich vier Hoden. Rat sucht und findet der Brigadier in einem Kochbuch.
Ádám Bodors zentrales erzählerisches Mittel ist die zeitliche und räumliche Entgrenzung des Geschehens durch die Anhäufung von pittoresken und gern grausamen Details. Das macht „Die Vögel von Verhovina“ atmosphärisch stark, auf die Dauer aber sehr statisch.