Adam Nicolson: "Der Ruf des Seevogels"

Fantastische Lebenskünstler

Cover des Buchs "Der Ruf des Seevogels" von Adam Nicolson. Das blass beige-grüne Cover ist mit einer farbigen Zeichnung von zwei Vögeln versehen.
Lummen können 180 Meter tief tauchen, ein Wanderalbatros legt in seinem Leben acht Millionen Kilometer zurück: Mit leichter Hand referiert Adam Nicolson zahlreiche Fakten. © Deutschlandradio / Liebeskind
Von Günther Wessel |
Der englische Autor Adam Nicolson feiert die Seevögel und ihre einzigartige Lebensweise: In seinem Buch "Der Ruf des Seevogels" porträtiert er zehn Arten in einer kunstvollen Mischung aus biologischen Fakten und atemraubenden Beschreibungen.
Adam Nicolson ist begeistert von Eissturmvögeln, Papageientauchern, Lummen und Möwen, Tölpeln, Sturmtauchern und dem Albatros. Seit frühster Kindheit und Besuchen an der schottischen Küste haben es diese Seevögel ihm angetan. In den hier vorliegenden, eindringlichen zehn Porträts gibt er seine Begeisterung an die Leserinnen und Leser weiter.
Mit leichter Hand referiert Nicolson zahlreiche Fakten. So erfährt man, dass Lummen bis zu 180 Meter tief tauchen können oder dass ein Wanderalbatros in seinem Leben zwar acht Millionen Kilometer zurücklegt, seine Herzfrequenz und somit sein Energieverbrauch aber, während er durch den Sturmwind schießt, nicht höher sind als beim Sitzen auf dem Nest.
Papageientaucher bilden eine Landkarte des Nordatlantiks in ihrem Kopf ab, und Eissturmtaucher orientieren sich anhand ihres Geruchssinns und finden so ihre Wege tausende Kilometer über das offene Meer. Die meisten Seevögel leben wie Papageientaucher monogam, legen nur ein Ei je Brutsaison und werden recht alt, bis zu 50 Jahre und mehr.

Tolle Mischung aus Biologie und Literatur

Virtuos wechselt der englische Journalist und Autor zwischen wissenschaftlichen Fakten und detaillierten Beschreibung hin und her: Er schildert anschaulich, lebendig und voller Bewunderung das Leben in großen Brutkolonien, er deutet das Verhalten und entwirft glaubhafte Charakteristiken der Vögel, zeigt, dass sie absichtsvoll und nicht bloß instinktiv handeln und findet immer wieder Raum für kenntnisreiche (kultur-)historische Exkurse.
Diese führen zu den Beothuk-Indianern auf Neufundland, in deren Kultur die Lummen das Bindeglied ins jenseitige Paradies bilden und die ihre Toten mit Seevogelschmuck bestatteten, zu Walfängern im Nordatlantik, denen die Eissturmvögel als Geister von Grönlandskippern erschienen oder in die Dichtung: zu Melville, Baudelaire und in die Odyssee.

Vom barbarischen Umgang mit den Seevögeln

Der Umgang der Menschen mit den Seevögeln war (und ist) barbarisch. Sie wurden wie der ausgerottete Tordalk als Nutzmasse betrachtet, und die Naturbegeisterung des 18. und 19. Jahrhunderts äußerte sich vor allem darin, möglichst viele Vögel zu schießen und sich Hüte mit gigantischem Federschmuck zuzulegen – vor allem die Federn der Küken von Dreizehenmöwen standen dabei hoch im Kurs.
Mitte des 19. Jahrhunderts war deren Bestand gefährdet – heute leben etwa 18 Millionen Dreizehenmöwen auf der Nordhalbkugel der Erde. Doch täuscht diese schiere Menge: Die meisten Seevögel sind auch heute noch in ihrer Existenz bedroht. Ihr Bestand ist in den letzten 60 Jahren um mehr als zwei Drittel zurückgegangen.
Nicolsons sehr schön und sorgfältig ausgestattetes Buch ist ein bewegendes, beeindruckendes und kenntnisreiches Stück Nature Writing, ein absolutes Lesevergnügen und zugleich eine Aufforderung, die Welt nicht nur immer im menschlichen Maßstab zu messen.
Das Anthropozän, das menschgemachte Zeitalter, in dem wir leben, gelte es zu beenden und ein neues Zeitalter einläuten: das Ökozoikum, in dem andere Lebewesen nicht mehr im Hinblick auf ihre Nützlichkeit für den Menschen betrachtet werden, sondern als Mitbewohner im "oikos", dem gemeinsamen Haus.

Adam Nicolson: "Der Ruf des Seevogels. Aus dem Leben von Papageientauchern, Tölpeln und anderen Meeresreisenden"
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Liebeskind, München 2021
368 Seiten, 36 Euro

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