Adelheid Duvanel: "Fern von hier. Sämtliche Erzählungen"
Hrsg. von Elsbeth Dangel-Pelloquin unter Mitwirkung von Friederike Kretzen
Limmat, Zürich 2021
792 Seiten, 39 Euro
Ein Blick in verwundete Seelen
06:17 Minuten
"Menschen sind fremd und machen Angst." Mit solchen Sätzen entwarf die Schweizer Schriftstellerin Adelheid Duvanel ein düsteres Bild von der Heillosigkeit aller menschlichen Existenz. Jetzt ist sie wiederzuentdecken.
Ein Vierteljahrhundert lang veröffentlichte die 1936 in Pratteln bei Basel geborene Autorin Adelheid Duvanel ihre verstörenden Kurzgeschichten in Schweizer Tageszeitungen und in sechs intensiven Prosabänden im Luchterhand Verlag. Z einer Aufhellung ihrer zutiefst fatalistischen Menschenkunde ist es aber nie gekommen.
Duvanel erzählte in finsterer Konsequenz vom beschädigten Leben. In einer bitterkalten Julinacht des Jahres 1996 ist sie nur wenige Wochen nach einem viel beachteten Auftritt bei den Solothurner Literaturtagen in einem Wald bei Basel erfroren.
Wuchtige Gesamtausgabe ihrer 251 Erzählungen
Es hat mehrfach Versuche gegeben, die Erinnerung an diese einzigartige Erzählerin des menschlichen Unglücks wachzuhalten. In dieser Hinsicht ist die wuchtige Gesamtausgabe ihrer Erzählungen, die der Limmat Verlag vorgelegt hat, eine editorische Großtat.
Neben den Erzählungen aus den zu Lebzeiten und nach ihrem Tod veröffentlichten Prosabüchern wurden auch die bislang nur verstreut in Zeitungen publizierten Geschichten aufgenommen.
Jede der insgesamt 251 Erzählungen in diesem Band erzählt auf zwei bis höchstens sechs Seiten von einem verfehlten Dasein, in dem die Figuren regelmäßig existenziellen Schiffbruch erleben. In einigen Texten orientiert sich dieses parabelhaft verknappte, manchmal auch surreale Erzählen an Franz Kafkas Prosa.
Eine Hauptfigur in der Erzählung "Das Getüm" heißt zum Beispiel Wotanek, der "gleichsam zugemauert, unerkannt, im Verborgenen lebte". Er ist – nicht nur lautlich – ein enger Verwandter von Kafkas Protagonist Odradek aus der Erzählung "Die Sorge des Hausvaters".
Von irrlichternden Grenzgängern und Ausgestoßenen
In vielen Fällen macht Duvanel gleich im ersten Satz klar, dass ihre Protagonisten, wobei es sich oft um verlassene, auf sich allein gestellte Mütter mit einem Kind handelt, auf ein unabwendbares Verhängnis zusteuern.
"Bruder August machte früh den Eindruck, als hätten wir ihn uns nur geliehen." So beginnt die Geschichte eines aus allen Bindungen herausgefallenen Außenseiters, dessen empfindliches Sensorium bei den Vertretern der pragmatischen Alltagsvernunft unbemerkt bleibt. Das Lebensgefühl, "nur irrtümlicherweise unter uns zu weilen", teilt dieser Außenseiter mit den meisten Figuren von Duvanels Prosa.
So stolpern all diese irrlichternden Grenzgänger und Ausgestoßenen, Traumwandler und Selbstmörder, die diese Prosa bevölkern, in eine tiefe Einsamkeit. Ihr Versuch, sich selbst an die Welt anzuschließen, misslingt.
Ein geschiedener Cellist besorgt sich ein Telefon, um endlich mit der Welt in Verbindung zu treten, nur weiß er dann nicht, wen er anrufen soll. In der Erzählung "Zufluchtsort" fährt ein Mann den ganzen Tag mit der Straßenbahn durch die Stadt, um den Kontakt mit seiner suizidgefährdeten Frau zu vermeiden.
Intimität zerfällt
Und wenn momentweise die Verheißung von Intimität aufblitzt, zerfällt sie in Sekunden zu nichts: "Von nah veränderte sich ihr liebreich blickendes Auge, wurde bösartig und tückisch."
Als Kind, so schreibt sie in ihrem Essay "Innen und Außen", wollte Adelheid Duvanel Glasmalerin werden, um "alle neuen Kirchen mit Scheiben wie mit göttlichen Augen zu versehen, die sowohl nach AUSSEN wie nach INNEN blicken konnten".
Diese irritierende Fähigkeit, wie mit "göttlichen Augen" in die verwundeten Seelen ihrer Figuren zu blicken und gleichzeitig mit ihnen die Fremdheit der Außenwelt wahrzunehmen, ist die große Kunst dieser Erzählerin.