Aderlass mit Folgen

Von Dörte Hinrichs und Hans Rubinich |
Am 7. April 1933 beschlossen die Nationalsozialisten das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Dieses harmlos klingende Gesetz hatte dramatische Folgen für die deutsche Wissenschaft. Juden und politisch Andersdenkende wurden systematisch aus ihren Ämtern, aus Hochschulen und Instituten gedrängt. Die 2. Durchführungs-Verordnung vom 4. Mai 1933 legte schließlich fest, dass innerhalb eines Monats alle Entlassungen vorgenommen sein sollten.
Rundfunkeinspielung, 30. Januar 1933: "Wir werfen einen Blick in das Arbeitszimmer Adolf Hitlers. In hellem Licht steht er am Fenster und blickt hinaus auf die vorbeimarschierende SA, auf die ungeheuren Menschenmassen, die ihm zujubeln. Adolf Hitler steht mit todernstem Gesicht am Fenster, keine Spur von irgendwelcher Siegesstimmung oder dergleichen, eine ernste Arbeitsstimmung, die auf seinem Gesicht liegt. Er ist nur unterbrochen worden, und doch leuchtet es in seinen Augen über dieses erwachende Deutschland, über diese Massen von Menschen aus allen Ständen, aus allen Schichten der Bevölkerung, die hier vorbeimarschieren,"

Der braune Fackelzug marschiert an diesem Abend des 30. Januar 1933 durch das Brandenburger Tor. Nicht jeder geht mit. Der Nobelpreisträger Albert Einstein kehrt schon im Dezember 1932 aus den USA nicht mehr nach Deutschland zurück. Im März 1933 kündigt er seine Mitgliedschaft in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Auch andere Wissenschaftler jüdischen Glaubens werden in Nazi-Deutschland von nun an unerwünscht sein.

Nicht nur die Gewerkschaften und große Parteien wie die SPD und die KPD werden verboten, auch die geistige Elite wird bald Zielscheibe des Hitler-Regimes.
Schon zwei Monate nach Hitlers Regierungsantritt folgt am 7. April 1933 das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums". Paragraph 3, der sogenannte Arierparagraph, spricht eine klare Sprache:

"Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen; soweit es sich um Ehrenbeamte handelt, sind sie aus dem Amtsverhältnis zu entlassen."

Insgesamt werden 30.000 Beamte entlassen. Besonders gravierend wirkt sich das Gesetz auf die Universitäten aus. Berühmte Opfer des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" sind die Philosophen Max Horkheimer und Theodor Wiesengrund Adorno. Allein von den 15 deutschen Nobelpreisträgern gehen 11 ins Exil.

Alle Wissenschaftler jüdischer Herkunft und politisch Andersdenkende werden aus dem Staatsdienst entfernt. Warum ihre Arbeit nicht mehr mit dem nationalsozialistischen Regime zu vereinbaren ist, macht der Regierende Bürgermeister von Hamburg, Carl Vincent Krogmann, in seiner Rede vom 10. Mai 1933 deutlich:

"Der neue Staat kann nur solche Beamten gebrauchen, die bereit sind, im Sinne der Weltanschauung des Volksführers Adolf Hitler und seiner großen Freiheitsbewegung an einer weiteren Durchführung der Errungenschaften mitzuwirken."

Die Frankfurter Universität und die dort Lehrenden sind von dem Gesetz besonders betroffen. Denn neben Berlin ist Frankfurt die Hochschule mit den meisten jüdischen Wissenschaftlern, gegründet 1914 von jüdischen Bürgern.
Insgesamt 100 jüdische Wissenschaftler an der Frankfurter Universität verlieren im Frühjahr 1933 ihre Lehrbefugnis, das ist ein Drittel aller Professoren. Weitere 16 werden aus politischen Gründen entlassen. Die Anzahl der Studenten wird sich in den nächsten drei Jahren halbieren.

In Frankfurt müssen ganze Fächer und Institute schließen, so auch das Institut für Sozialforschung, das in die USA verlegt wird. Rektor an der Frankfurter Universität wird an 3. August 1934 Walter Platzhoff, ein Nationalkonservativer. Er ist Nachfolger von Ernst Krieck, einem 1933 eingesetzten Nationalsozialisten, der schon ein Jahr später nach Heidelberg an die Hochschule wechselt. Erst 1938 tritt Platzhoff auf Druck in die NSDAP ein. Bei seinem Amtsantritt 1934 resümiert er:

"Die nationalsozialistische Revolution von 1933 hat die Johann Wolfgang Goethe-Universität tiefgreifend verwandelt und entscheidend fortentwickelt. Wie überall, so galt es, auch in ihr das Schädliche und Gefährliche, das sich eingenistet hatte, rücksichtslos zu beseitigen, aber das Wertvolle zu erhalten und mit nationalsozialistischen Geiste zu erfüllen …Wie in der Stadt Frankfurt, so waren auch an ihrer Universität das artfremde Judentum und die marxistische Ideologie ein- und vorgedrungen…In noch größerem Umfang als die Professoren gehörte der Nachwuchs diesen Kreisen an. Alle diese Elemente mussten ausgemerzt werden, wofür das Beamtengesetz die rechtliche Grundlage bot. Gleichzeitig wurde auch die Studentenschaft von ihnen gereinigt."

Die Vertreibung jüdischer Dozenten lässt sich gut an den damaligen Vorlesungsverzeichnissen illustrieren. Dr. Michael Maaser ist heute Archivar der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er blättert in den Dokumenten, die den Aderlass deutscher Wissenschaft schwarz auf weiß belegen:

"Dieses Exemplar erscheint am Anfang des Jahres zum Wintersemester 32/33. Dort steht noch der Lehrkörper vollständig drin. Dann kommt dieses "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" und nach und nach verschwinden Namen aus dem Personalverzeichnis und die werden dann einfach aus dem Verzeichnis handschriftlich mit Blaustift gestrichen. Und dann wird vermerkt: Entweder entlassen oder beurlaubt, je nach welchem Grad der Dozent betroffen war."

Betroffen vom sogenannten "Arierparagraphen" ist auch der Mathematiker Max Dehn. Er leistet Pionierarbeit auf drei Gebieten: Grundlagen der Geometrie, Topologie und Gruppentheorie. Was ihn besonders auszeichnet, ist sein Denken und seine wissenschaftliche Erkenntnis immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und sich mit Kollegen auszutauschen.

Maxt Dehn ist Leiter des Mathematischen Seminars an der Frankfurter Universität von 1924 bis 1935. Sechs Professoren gehören dem Seminar an. Sie treffen sich regelmäßig und arbeiten auf höchstem Niveau. André Weil, einer der bedeutendsten französischen Mathematiker des 20. Jahrhunderts, schreibt über das Mathematische Seminar in Frankfurt:

"Es herrschte dort eine ganz außergewöhnliche Atmosphäre… Nichts konnte den Anschein einfacher und zugleich anspruchsvoller sein. Nirgendwo sonst bin ich je einer Gruppe von so harmonisch zusammenarbeitenden Mathematikern begegnet."

Und weiter heißt es:

"Dehn war ein Humanist, der in der Mathematik ein Kapitel der Geschichte menschlichen Denkens sah, und so konnte es gar nicht ausbleiben, dass er einen völlig neuen Beitrag zur Geschichte der Mathematik leistete und seine Kollegen und Schüler daran beteiligte."

Nach dem Gesetz zum Berufsbeamtentum wird das Seminar aufgelöst. Denn fast alle Mitglieder sind jüdischer Herkunft.

Schwarz: "Das mathematische Seminar in Frankfurt, das war dann eigentlich am Ende… Nicht ganz. Siegel war noch da. .. Hellinger schied aus, Szaz schied aus, Dehn schied, Eppstein schied aus. Eppstein ,… der war noch älter als Dehn, der wollte nicht mehr fliehen. Und als er zur Gestapo vorgeladen wurde, hat er eine tödliche Dosis Veronal genommen."

So Wolfgang Schwarz, emeritierter Mathematikprofessor an der Frankfurter Universität. Er hat sich ausführlich mit Max Dehn und Carl Ludwig Siegel beschäftigt, der einzige Mathematiker nicht jüdischer Herkunft. Siegel wird später, 1978, für sein Lebenswerk mit dem hoch- renommierten israelischen Wolfspreis ausgezeichnet werden.

Der ehemalige Mathematikprofessor Wolfgang Schwarz hat recherchiert, wie sich das Beamtengesetz von 1933 auf das damalige mathematische Seminar auswirkte.

Schwarz: "Es hat fast alle hier in Franfurt getroffen. Ausnahmen waren solche, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten als Frontkämpfer. Oder deren Söhne oder Väter gefallen sind. Die konnten bis 35 im Amt bleiben. Das hat dann also Dehn auch betroffen. Der war im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite an der französischen Front eingesetzt gewesen."

1935 versetzten die Nationalsozialisten den Mathematiker Max Dehn in den vorzeitigen Ruhestand. Er bleibt zunächst in Deutschland. Als ehemaliger Frontkämpfer glaubt er, wie viele andere auch, noch an eine gesicherte Zukunft.

Schwarz: "Ich glaube, die ganzen Professoren haben damals gar nicht so geahnt, was auf sie zukommen würde. Und er hat sich wohl Zeit mit seiner Ausreise gelassen. Erst nach der so genannten Reichskristallnacht 1938 sollte er ins Konzentrationslager verschleppt werden. Aber es war kein Platz mehr für Gefangene. Er wurde noch mal Hause geschickt und Willi Hartner,. …hat ihn dann bei sich zu Hause aufgenommen, der war auch einer der Rektoren der Frankfurter Universität nach dem Zweiten Weltkrieg."

Das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" wird schnell umgesetzt. Warum gab es keinen Protest? Der Archivar der Frankfurter Universität Dr. Michael Maaser:

"Man hat das hingenommen und wenig dagegen opponiert. Also aus den Unterlagen selbst ist kaum ersichtlich, dass es einen Widerstand gegeben hat gegen diese Entlassungs-Welle. Die Kollegen reagierten eher zurückhaltend. Fast apolitisch."

Einige Wissenschaftler schweigen also. Andere handeln selbstsüchtig. Und spekulieren auf die frei werdenden Plätze. Die meisten sind allerdings anfällig für die nationalsozialistischen Ideen. Weshalb fallen diese auf so fruchtbaren Boden?

Der emeritierte Marburger Faschismusforscher Reinhard Kühnl gibt Antwort:

"Die Institution Wissenschaft, die Universitäten, die Hochschulen, haben es tatsächlich vermocht weitgehend alles abzuwehren, was in Richtung Demokratisierung oder Liberalisierung etwa auf sie hätte eindringen können. Das heißt sie haben personell das übernommen, was ihnen aus dem Kaiserreich überliefert war. Sie haben die Gedanken, die Ideen, und weitgehend die Weltbilder übernommen, die aus dem Kaiserreich überliefert waren. Die Folge war, dass die junge Generation, die an den Universitäten dann ausgebildet worden ist, während der Weimarer Republik in sehr hohem Maße von diesen nationalistischen, militaristischen Ideen ergriffen worden ist."

Daher regt sich auch kaum Widerstand bei den Studenten als nun Wissenschaftler jüdischen Glaubens entlassen werden. Und es erklärt, weshalb es sogar an der jüdischen Stiftungsuniversität in Frankfurt am Main sehr schnell schon möglich ist, sie 1933 von dem Nazi-Rektor Ernst Krieg leiten zu lassen. Was vordergründig wie ein radikaler Umbruch aussieht, hat Tradition.

Der Mathematiker Max Dehn flieht im Januar 1939 aus Deutschland. Zunächst geht er nach Kopenhagen, später nach Trondheim. Nachdem die deutschen Truppen Norwegen besetzt haben, flieht Dehn über Finnland, Russland, Sibirien und Japan nach San Francisco. Er hat zwar sein Leben gerettet, muss aber wieder ganz von vorn anfangen.

Schwarz: "Er hat nichts Gescheites gefunden. Und das war natürlich schon sehr traurig für einen Mathematiker, eigentlich mit Weltrang… Aber einfach dadurch, dass er viel zu spät nach Amerika gegangen ist, da waren viele Stellen von anderen Emigranten, die 1933 gegangen sind, schon besetzt."

Und so beginnt für Dehn eine Odyssee durch die Vereinigten Staaten.
1941/42 nimmt er eine Lehrtätigkeit in Pocatello an, als Gastprofessor unterrichtet er ein Jahr später am Illonis Institute of Technology in Chicago und dann verdingt er sich als Tutor in Annapolis am St. John’s Georg College. 1945
lehrt er dann am Black Mountain College in North Carolina als Professor für Mathematik und Philosophie.

Berühmte Forschungsverbände, wie die Deutsche Forschungsgesellschaft und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft erklären sich kurz nach Hitlers Machtantritt bereit, die nationalsozialistische Regierung zu unterstürzen. Der Physiker Max Planck ist Präsident der Kaiser-Wilhelm Gesellschaft. Er ist zwar kein Nazi, dennoch dient er sich dem Regime an. Nach ihrer Mitgliederversammlung im Mai 1933 telegrafiert Planck an Hitler

"Die zur 22. Ordentlichen Hauptversammlung der Kaiser-Wilhelm-Gesllschaft zur Förderung der Wissenschaften versammelten Mitglieder beehren sich, dem Herrn Reichskanzler ehrerbietige Grüße zu übersenden und hierdurch feierlich zu geloben, daß auch die deutsche Wissenschaft bereit ist, an dem Wiederaufbau des neuen nationalen Staates, der ihr Schutz und Schirmherr zu sein gewillt ist, nach besten Kräften mitzuarbeiten."

Die Antwort aus Berlin folgt promt. Hitler dankt für die angebotene Zusammenarbeit.
Gleichzeitig fällt ein großer Teil der wissenschaftlichen Elite dem"Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" zum Opfer. Insgesamt werden 104 jüdische oder politisch missliebige Mitarbeiter entlassen, vor allem Chemiker, Mediziner und Biologen.

Einer von ihnen ist der jüdische Biochemiker Prof. Carl Neuberg. 1877 in Hannover geboren, begründet er 1925 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie in Berlin. Vor allem die Patente für seine Erfindung von Ersatzstoffen für das kriegswichtige Glycerin bescheren ihm die finanziellen Mittel, um ein eigenes Institut unter dem Dach der Kaiser-Wilhelm Gesellschaft aufzubauen.

Lohff: "Sein Lebenstraum war von Anfang an die Biochemie als eigenständige Disziplin in der Wissenschaft einzubauen. (…) Das ist ihm so exzellent gelungen, dass er dafür 27 mal für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde."

So Prof. Brigitte Lohff, Leiterin der Abteilung Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Sie erinnert gemeinsam mit Hinderk Conrads in ihrem 2006 erschienenen Buch "Carl Neuberg – Biochemie, Politik und Geschichte" – an "Lebenswege und Werk eines fast verdrängten Forschers".

Auch wenn der Biochemiker Carl Neuberg den Nobelpreis nie erhalten hat, ist er damals ein international angesehener Wissenschaftler. Er leitet nicht nur das Institut an der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, er unterrichtet auch an der Königlichen Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin und an der Charité.

Als 1933 das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" in Kraft tritt, sieht Carl Neuberg darin noch nicht den Anfang vom Ende seiner wissenschaftlichen Karriere in Deutschland. Wie sehr er die Gefahr verkannte, die von den Nationalsozialisten ausging, zeigt folgende Äußerung:.

"Weshalb soll ich auswandern, es wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird. Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat. Was kann mir schon passieren, ich bin Frontkämpfer, habe vier Jahre lang an der Westfront gekämpft, war Unteroffizier und habe das Eiserne Kreuz erster Klasse."

Doch der militärische wie auch der wissenschaftliche Dienst für das deutsche Vaterland sind kein Schutz vor Verfolgung. Das bekommt auch Carl Neuberg zu spüren: 1934 wird er zwangspensioniert. Seine Position als Leiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biochemie allerdings scheint zunächst nicht in Gefahr.
Lohff: "Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) war teils staatlich, teils privat und durch diese Zwitterposition konnten die Nationalsozialisten, nicht direkt durchsetzen, dass jüdische Wissenschaftler entlassen wurden. Und auf der anderen Seite war natürlich das Bestreben von Max Planck, der zu der Zeit Präsident der KWG war, auch viele Wissenschaftler, die internationales Renommée hatten, an der KWG zu halten. Dafür sind dann zwei jüdische Wissenschaftler entlassen worden – Jüngere oder eben Mitarbeiter aus der Verwaltung– aufgrund dieses §. Und einige Wissenschaftler, die eine Direktorenposten hatten sind länger geblieben. Teils oft zu ihrem Nachteil."

So auch Carl Neuberg, der noch bis zum 30. September 1936 das Institut für Biochemie kommissarisch weiterführen darf Sein Nachfolger wird Adolf Butenandt.

Zwar hat ein nationalsozialistischer Labormitarbeiter Neuberg schon 1933 wegen angeblicher "Beleidigung des Führers" beim Betriebsrat des Kaiser-Wilhelm-Institutes denunziert, doch erfährt der berühmte Biochemiker mehrheitlich Unterstützung von seinen Kollegen angesichts seiner Zwangsentlassung.

Lohff: "Die Institutsmitglieder, seine Assistenten und seine Mitarbeiter haben alle zu ihm gehalten, was ungewöhnlich war in der damaligen Zeit. Sie haben alle auch entsprechende Ehrenerklärungen abgegeben, als ihm vorgeworfen wurde von dem benannten Institutsdiener, er hätte gesagt, Hitler benehme sich wie ein Elefant im Porzellanladen. (…) Also sie haben alle hinter ihm gestanden, aber er wurde auch nicht mehr von der Leitung der KWG gehalten. Die haben sich nicht mehr für ihn eingesetzt und es wurde für die Leute auch zunehmend gefährlicher praktisch in Deutschland zu bleiben, weil sie entweder dann ins KZ abtransportiert wurden oder tätlichen Angriffen ausgesetzt waren."

Neuberg unterhält danach noch ein kleines Labor in einer Nahrungsmittelfabrik während seine beiden Töchter schon in die USA ausgewandert sind. Der Witwer verkauft schließlich seine Villa in Berlin-Dahlem und emigriert, nachdem ihm seine Freunde aus Potsdamer Militärkreisen dringend dazu geraten haben:

Lohff: "Er hat dann 14 Tage vor Beginn des Zweiten Weltkrieges in Nacht und Nebel, noch mit zwei Handkoffern, Deutschland verlassen Richtung Amsterdam. Hat in Amsterdam an einem Institut, weil er ganz viele Schüler hatte und man ihn in der ganzen Welt kannte und sich alle für ihn eingesetzt hatten, auf seiner Flucht und in der Emigration zu unterstützen, hat dort eben in Amsterdam für ein halbes Jahr gearbeitet. Und ist dann mit Hilfe eines anderen Schülers, dessen Vater (…) in Frankreich im diplomatischen Dienst stand, hat ihm dann das Transit-Visum ermöglicht, nach Spanien zu kommen, nach Lissabon, um dann eben mit einem Schiff Richtung Israel zu reisen. Und in Israel hat ihm ein anderer Schüler wieder eine Möglichkeit verschafft, um dort zu arbeiten. Das war Ende 1941/42, hatte er ein Visum für die USA, wo seine Kinder ja auch waren."
Doch damit ist die Odyssee noch nicht zu Ende, wie Professor Brigitte Lohff bei der Erforschung des Lebensweges von Carl Neuberg herausgefunden hat:

Lohff: "Und dann ist er mit Eselskarren über Pakistan nach Indien und von dort mit dem Schiff in die USA. Und in den USA ist er dann letztendlich nach New York gegangen, und hat dort das traurige, mühsame, nicht mehr glückliche aber mit vielen Kämpfen versehene Leben eines jüdischen Emigranten, der schon über 60 war, gelebt."
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Forschungsstil an den amerikanischen Universitäten und der Umgang der Wissenschaftler untereinander befremden den deutschen Biochemiker zutiefst.. Mit fast 65 Jahren erhält Neuberg eine Professur an der New Yorker Universität. Alle zwei Jahre muss er um weitere Verlängerungen kämpfen, bis er mit 71 Jahren gezwungen wird, sich um andere Angebote zu bemühen, um mit wissenschaftlicher Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Der Biochemiker und Schriftsteller Erwin Chargaff, der als 28-Jähriger 1933 von Berlin über Paris nach New York emigrierte, schreibt 1980 über seine Erfahrung im Exil:
"Es wäre durchaus falsch zu glauben, dass die meisten damals mit offenen Armen empfangen wurden. Für die Jüngeren waren die Schwierigkeiten nicht allzu groß, denn sie hatten weniger beleidigten Stolz herunterzuschlucken, aber je hervorragender, je berühmter ein Mann war, desto größer die Abneigung, ihn willkommen zu heißen. Diese armen Leutchen hatten ein schweres Leben (…) Von der Zertrümmerung der europäischen Wissenschaft in den Jahren 1930-1950 hat niemand profitiert (…) Das eine Land mag ärmer geworden sein, das andere nicht viel reicher (…) Sogar die Naturwissenschaften (…,) leben im Schoße einer bestimmten Sprache und Zivilisation, was da herausgerissen wurde, ist nie wieder nachgewachsen (…)
Solche Männer wie Neuberg und Meyerhof hatten es nicht leicht."

Lohff: "Sie wurden ….zwar aufgenommen, aber sie wurden nicht mehr in dem Sinne gefördert oder unterstützt. Sie hatten ein mühsames Leben dort. Und sie haben alle sehr gelitten, weil sie diesen Bruch mit ihrer Kultur schwer überwunden haben."

Die Vertreibung aus Deutschland, aus deutscher Wissenschaft und Kultur, bestimmt auch den Lebensweg von Dr. Max Ufer . Er leitet
bis 1933 eine Abteilung im Kaiser Wilhelm-Institut für Pflanzenzüchtung in Müncheberg. Ufer selbst ist nicht jüdischen Glaubens, aber seine Frau. Seine Tochter Marianne, die heute in Rom lebt, erinnert sich.

"Er wurde vor die Wahl gestellt: entweder sich scheiden lassen, und dann hätte er die Stellung behalten können, oder eben er musste die Stelle verlassen. Und deshalb war er ganz stark betroffen von diesem Gesetz von 1933. Mein Vater hat alsbald versucht auszuwandern, das war aber nicht möglich, weil er nicht das Geld dazu hatte."

Max Ufer entscheidet sich für seine Frau und damit zwangsläufig gegen die Forschung. Bis 1939 arbeitet er bei einer Saatgut-Firma. Dann flieht der Pflanzenforscher mit seiner Familie nach Rumänien.

Den Eltern seiner jüdischen Ehefrau gelingt die Flucht nicht mehr. Sie kommen in Theresienstadt um. Und auch die Schwester seiner Frau überlebt nicht. Sie wird Opfer des "Euthanasie"-Programms. Max Ufer muss von seiner Frau und seiner Tochter getrennt leben, nur heimlich können sie sich treffen.

Nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Rumänien kommt Max Ufer zusammen mit seinen ehemaligen Nazi-Verfolgern als feindlicher Deutscher in ein Internierungslager. Erst 1948 gelingt es seiner Frau ihn freizubekommen. Bis 1952 arbeitet er als Berater für Pflanzenzüchtung bei der afghanischen Regierung. Dennoch hofft er weiter, seine wissenschaftliche Karriere fortsetzen zu können.

"Leider war an der Stelle des Instituts, wo er arbeiten sollte, war ein furchtbarer Nazi, aber wir wussten das damals nicht. Nur hat er gegenüber meinem Vater diffamierende Äußerungen gegenüber meiner Mutter ausgedrückt."

Die Rede ist von Wilhelm Rudorf. Er bemängelt, Ufer würde immer noch mit einer jüdischen Frau verheiratet sein. Sein Rat: Wenn er wieder als Wissenschaftler bei der Max-Planck-Gesellschaft arbeiten wolle, dann solle er besser nicht in der Nähe des Instituts wohnen.

Doch nach jahrelanger Verfolgung will Max Ufer sich nach dem Krieg nicht wieder mit seiner Familie verstecken müssen. Verbittert kehrt er ein zweites Mal Deutschland den Rücken und geht nach Brasilien…

"Maßgebend, dass wir nicht geblieben sind, war eigentlich diese Äußerung des Institutsleiters Wilhelm Rudorf, der, wie wir jetzt wissen nach 50 Jahren, der ein SS-Mann war, der mit Auschwitz kollaboriert hat, mit Himmler und mit Auschwitz, und dort Experimente hat machen lassen von Häftlingen, Experimente über Kautschuk."

Wilhelm Rudorf war vor 1945 für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft tätig. Nach 45 wird die sie umbenannt in die Max Planck-Gesellschaft. Und Wilhelm Rudorf wird ohne Probleme übernommen. Er wird Leiter des Instituts für Pflanzenzüchtung. Auch viele seiner Kollegen, die wie er der nationalsozialistischen Forschung gedient haben, können ihre Karriere unbeschadet fortsetzen.

Ihre eigene Vergangenheit verdrängt die Max-Planck-Gesellschaft bis in die neunziger Jahre. Erst 1997 beruft der damalige Präsident Hubert Markl eine unabhängige Kommission, die herausfinden soll, welche Rolle die Vorgänger-Organisation, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus spielte. Zwei Jahre später nimmt eine unabhängige Forschergruppe ihre Arbeit auf, die 2005 einen ersten Abschlussbericht vorlegte. Das Ergebnis: Einige Institute der Kaiser-Wilhelm Gesellschaft hatten die Rüstungsforschung vorangetrieben, andere die Rassenhygiene der Nationalsozialisten unterstützt und wiederum andere sich an Menschenversuchen beteiligt.

Unmittelbar nach dem Krieg bemüht sich die Max-Planck-Gesellschaft allerdings auch prominente Wissenschaftler jüdischen Glaubens nach Deutschland zurückzuholen.

Nur in drei Fällen sind solche ehemaligen Mitarbeiter grundsätzlich bereit, wieder für die Gesellschaft zu arbeiten, viele kommen aber zu Gastvorträgen. Albert Einstein kommt nicht zurück. 1949 lehnt er es auch ab, "Auswärtiges Mitglied" der Max Planck-Gesellschaft zu werden.

Erfolgreicher als die Max Planck-Gesellschaft ist da die Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Sie kann etwa ein Drittel der emigrierten Wissenschaftler wiedergewinnen. Wie etwa Max Horkheimer und Theodor Adorno. Nicht zurückkommen vertriebene Chemiker jüdischen Glaubens.
Der Mathematiker Max Dehn bleibt in den Vereinigten Staaten, auch wenn die Frankfurter Universität sich bemüht, ihn wieder nach Deutschland zu holen.

Wolfgang Schwarz: "Er war an dem Black-Montain College, wurde 1952 in den Ruhestand versetzt, ist aber kurz darauf verstorben.
Die naturwissenschaftliche Fakultät in Frankfurt hatte ihn eingeladen zurückzukommen und für das Wintersemester 52/53 gab es Planungen, dass er Vorlesungen in Frankfurt halten würde, aber das ist nicht mehr dazu gekommen."

Am Ende gewährt das Land Hessen Max Dehn die Emeritierung und die Nachzahlung seiner Bezüge. Die gehen dann an seine Witwe.

Der Mathematiker Carl Ludwig Siegel kommt zurück nach Deutschland, sein Kollege Ernst Hellinger verzichtet.

Schwarz: "Hellinger wollte nicht mehr nach Deutschland kommen. Er war sechs Wochen im KZ in Dachau "interniert" in Anführungsstrichen gewesen und er hat so Schreckliches dort erlebt. Er hat nie darüber gesprochen. Auch zu seinem Freund Siegel nicht."

Der Biochemiker Carl Neuberg hofft nach dem Krieg eine Lebens- und Arbeitsperspektive in Deutschland zu bekommen. Zwar unterstützt die Max-Planck Gesellschaft ihn schließlich bei seinen Rentenansprüchen – dem Forscher aber wieder eine berufliche Perspektive und Heimat geben, das will damals offensichtlich niemand so recht.
Lohff: "Er ist dann zu Vorträgen gelegentlich da gewesen, aber er wäre gerne nach Deutschland zurückgekommen, wenn ihn jemand gebeten hätte zurückzukommen, aber es hat ihn keiner wirklich gebeten."

So Professor Brigitte Lohff von der Medizinischen Hochschule Hannover.
1955 wird Neuberg der Vorsitz für eine in Deutschland geplante internationale Enzym-Nomenklatur-Konferenz angeboten – er lehnt ab, aufgrund seines fortgeschrittenen Alters. Er stirbt schließlich 1956 in New York. Mit seinem Tod geraten sein Schicksal und sein wissenschaftliches Werk zunehmend in Vergessenheit. Genauso wie das von Max Ufer.

Lohff: "Sie sind aus den Informationsquellen verschwunden, weil man eben sie ausradiert hat im wahrsten Sinne des Wortes. Und wenn man dann nicht mehr in den Lexika erscheint, und in den Naturwissenschaften spielen die biografischen Hintergründe nie so eine große Rolle wie vielleicht in den Geisteswissenschaften, und das führt eben halt dazu, dass sie einfach vergessen werden."