ADHS: Droht uns eine 'Generation Ritalin'?

ADHS - diese vier Buchstaben stehen für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Das "Zappelphilipp-Syndrom" ist mittlerweile die häufigste psychiatrische Erkrankung unter Kindern und Jugendlichen.
Schätzungen zufolge sind knapp fünf Prozent der Drei – bis 17-Jährigen davon betroffen, hauptsächlich Jungen. Ihre Zahl ist in den letzten 20 Jahren rasant gestiegen: von 1500 im Jahr 1991 auf heute rund 700 000. Zwei ADHS-Kinder pro Schulklasse gelten mittlerweile als "normal".

Ist es auch "normal", dass jährlich fast 1,8 Tonnen Ritalin und ähnliche Medikamente an Kinder abgeben werden?
Was ist passiert, dass aus dem "Zappelphilipp" von früher ein behandlungsbedürftiges Kind wurde?
Leben wir in einer hyperaktiven Gesellschaft, und die Kinder sind nur die Vorboten einer "Generation Ritalin?
Wie sollen wir als Gesellschaft darauf reagieren?

"Es wachsen teilweise Menschen heran, die von der Einschulung an jeden Tag Tabletten bekommen haben. Und das kann nicht gut sein, moralisch nicht und biologisch nicht", sagt der Medizinjournalist Jörg Blech und Autor des Buchs "Die Krankheitserfinder" (Verlag S. Fischer). "Das Temperament der Kinder ist gleich geblieben, aber die Art und Weise, wo wir die Grenze ziehen und ab wann wir Medikamente geben, hat sich verschoben. Die Toleranzschwelle gegenüber Kindern, die Temperament haben, ist gesunken. Das ist ein kultureller Bewusstseinswandel."
Er zitiert den "Erfinder" der ADHS-Diagnose – den US-amerikanischen Psychiater Leon Eisenberg – der ihm kurz vor seinem Tod sagte, ADHS sei "ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung".

"Es ist keine erfundene Krankheit", widerspricht Prof. Dr. Manfred Döpfner, Leitender Psychologe an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln und Leiter des Zentralen ADHS-Netzes. "Es gibt tatsächlich Kinder mit stark ausgeprägter Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit." Entscheidend sei, ob es sich um eine behandlungsbedürftige Störung handele. "Es gibt einen gleitenden Übergang von der Normalität bis hin zu starken Symptomen." Heute stehe den Ärzten ein ganzes Bündel an Maßnahmen zur Verfügung, mit denen die belastende Situation im Elternhaus, Kindergarten oder der Schule entspannt werden könnten. Das umstrittene Medikament Ritalin sei nur eines der möglichen Varianten und werde nur bei starken Symptomen verschrieben. "Bei etwa 60 Prozent der Patienten können die Beschwerden weitgehend beseitigt werden."

Der Psychologe hat gemeinsam mit Kollegen einen Ratgeber für Eltern von hyperaktiven Kindern geschrieben, in dem er auch mit den häufigsten Klischees und Vorurteilen aufräumt: "Wackelpeter & Trotzkopf" (Beltz-Verlag).

Auch der ADHS-Experte sieht die Gesellschaft in der Pflicht, auf die wachsende Zahl der hyperaktiven Kinder zu reagieren: "Das Thema hat eine starke gesellschaftliche Relevanz. Wie viel Toleranz ist man bereit aufzubringen? Was akzeptieren wir und was nehmen wir hin? Wo sind die Grenzen? Es gibt zunehmend Konzepte, die sagen: Vielleicht sind manche Phänomene, die wir als psychische Störungen empfinden, als Vielfalt zu sehen, eine Variation der Natur."

"Diagnose ADHS: Droht uns eine 'Generation Ritalin'?"

Darüber diskutiert Dieter Kassel heute von 9 Uhr 05 bis 11 Uhr gemeinsam mit dem Medizinjournalisten Jörg Blech und dem ADHS-Experten Manfred Döpfner.
Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 00800 2254 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Weitere Informationen:
www.zentrales-adhs-netz.de
www.adhs.de
www.adhs-deutschland.de

Literaturhinweis:
Jörg Blech: Die Krankheitserfinder: Wie wir zu Patienten gemacht werden, Fischer TB
Manfred Döpfner, Stephanie Schürmann, Gerd Lehmkuhl: Wackelpeter & Trotzkopf, Beltz-Verlag
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