Man stellt sich einfach einen Bahnhof vor, am besten so einen Kopfbahnhof: Mit ADHS fahren alle Züge gleichzeitig los und man kann es nicht steuern. Dann ist es ein absolutes Chaos.
Tabletten vs. Therapie
Konzentrationsschwierigkeiten, hohe Impulsivität oder ein sogenannter Hyperfokus: Erwachsene, die unter ADHS leiden, kämpfen im Alltag mit unterschiedlichen Herausforderungen. © Getty Images/ MirageC
Die Behandlung von Erwachsenen mit ADHS
07:05 Minuten
ADHS ist eine der häufigsten psychischen Störungen von Kindern. Aber auch Erwachsene können unter der Entwicklungsstörung leiden – wenn diese bei ihnen nicht früher erkannt und therapiert wurde. Welche Behandlung ist dann für sie die richtige?
Als Kind fällt Iris auf – und nicht immer positiv. Sie wirkt aufbrausend und ist dann oft wenig einsichtig, wenn es um die möglichen negativen Folgen ihrer Handlungen geht.
“Ich wollte immer die Löwen haben. Und eine Freundin von mir im Kindergarten, die wollte mir die eben nicht abgeben. Dann hab ich ihr den Löwen halt ins Gesicht gedonnert“, erzählt sie.
Wenn die heute 36-Jährige auf ihr Leben blickt, fallen ihr zahlreiche solcher Situationen ein. Auch die Schulzeugnisse sprechen Bände, im Unterricht konzentrieren kann sie sich nur schwer. Doch erst als ihr Sohn 2017 die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, bekommt, wird sie stutzig.
„Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen“
“Drei Monate später hatte ich dann meinen Termin bei einer ADHS-Ambulanz und habe mich dann auch diagnostizieren lassen. Da ist es mir wie so Schuppen von den Augen gefallen und dann hat auf einmal so unglaublich viel Sinn gemacht.“
ADHS fängt immer im Kindesalter an, in einigen Fällen wird es da nur noch nicht diagnostiziert – wie bei Iris. In ihrem Alltag bedeutet das: Zum einen ist sie impulsiv und kann sich oft nicht konzentrieren. Zum anderen leidet die Verwaltungsfachangestellte aber auch unter einem sogenannten Hyperfokus.
Wenn Iris für etwas so richtig brennt, blendet sie alles andere in der Welt aus. Vergisst ihre Grundbedürfnisse: essen, trinken, Toilette, schlafen. Außerdem wird ihr der Umgang mit anderen Menschen schnell zu viel.
Komplexes Verfahren der Diagnose
Festgestellt wird ADHS durch Konzentrationstests, Fragebögen, Gespräche – und durch Ausschluss anderer Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen. Andere Diagnosetools, wie das EEG oder genetische Untersuchungen sind noch nicht ausgereift genug, sagt Julian Hellmann-Regen.
Er ist Psychiater und leitet die Spezialambulanz für ADHS im Erwachsenenalter der Charité in Berlin. Bekannt ist, dass sowohl die Gene als auch Umwelteinflüsse bei der Entstehung von ADHS eine Rolle spielen. Die Vorgänge im Gehirn erklären sich Forschende vor allem mit einem Ungleichgewicht in der Funktion der dopaminergen Netzwerke. Hier kommen die Medikamente ins Spiel.
“Also wir wissen, dass diese Medikamente, die wirken, katecholaminerge Mechanismen ansprechen. Das heißt, dass entweder die Wiederaufnahme von Dopamin, Adrenalin, Noradrenalin gehemmt wird und damit die Wirkung verstärkt wird. Oder aber die Freisetzung von wiederum Katecholamin, also Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin verstärkt wird, vereinfacht wird”, erklärt er.
Medikamente individuell austesten
Mit anderen Worten: Von Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin muss mehr in einen Teil des Gehirns her – entweder dadurch, dass mehr produziert oder der Abbau verlangsamt wird. Deshalb wird Erwachsenen mit ADHS entweder Methylphenidat verschrieben, bekannt als Ritalin und häufig auch bei Kindern mit ADHS angewendet. Oder sie bekommen Amphetamine.
Welches Medikament das richtige für den jeweiligen Patienten ist, muss individuell ausgetestet werden. Vor allem mit Blick auf die Nebenwirkungen, die es natürlich auch hier gibt: Bluthochdruck, Appetitlosigkeit, Schlafprobleme, Magenschmerzen oder Verdauungsprobleme. Nicht jeder möchte oder kann das aushalten. In jedem Fall sehen die Behandlungsrichtlinien auch eine Verhaltenstherapie vor.
Für Iris ist Letztere neben der Selbsthilfegruppe eine ganz wichtige Säule. Denn ihre Impulsivität, erzählt sie, macht es ihr oft schwer, angemessen auf ihre beiden Kinder zu reagieren, die auch eine ADHS-Diagnose haben.
“Es war für mich relativ schwierig, nicht sofort immer loszubrüllen oder komplett auszuflippen“, erzählt sie. „Ich habe dann mit meinem damaligen Therapeuten ausgemacht, dass ich einfach anfange, erst einmal ruhig aus dem Raum zu gehen, ruhig aus der Situation zu gehen, und dann habe ich in Gedanken meinen Küchentisch zehnmal hochgehoben.“
Medikamente nimmt Iris trotzdem. “Die Medikamente helfen, dass man sich besser fokussieren kann, dass man nicht mehr so gestresst ist, dass man nicht mehr so müde und kaputt ist. Aber man muss trotzdem an sich arbeiten. Weil die Medikamente kein Allheilmittel sind“, sagt sie.
Psychotherapie in Verbindung mit Methylphenidat
Welche Therapie Erwachsenen mit ADHS am besten hilft, das hat Alexandra Philipsen zusammen mit ihrem Team untersucht. Sie ist Klinikdirektorin und Professorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum in Bonn.
Die Ergebnisse der sogenannten COMPAS-Studie sind 2015 erschienen und haben die heutigen Leitlinien für die Behandlung geprägt. Die Forschenden hatten dafür damals mehr als 400 ADHS-Patient*innen zufällig in vier Gruppen geteilt.
“Das eine war ein Behandlungsarm mit Methylphenidat und Gruppenpsychotherapie, Verhaltenstherapie. Das andere war Methylphenidat und eher so eine individuelle Gesprächsführung, ohne Hausaufgaben, ohne vorgegebene Struktur. Die andere Behandlungsbedingung war Placebo und dieses verhaltenstherapeutische Gruppenformat und die vierte Behandlungsbedingung war Placebo mit diesem supportiven, individuellen Gesprächsformat“, erklärt Alexandra Philipsen.
Die Menschen wurden über ein Jahr begleitet und dann eineinhalb Jahre nach Beendigung der Studie noch einmal untersucht. Eine Erkenntnis: Das Gruppenformat war nicht erfolgreicher als die Einzeltherapie. Und:
„Es hat sich aber eben deutlich gezeigt, dass die Patienten und Patientinnen, die zusätzlich Methylphenidat erhalten hatten, signifikant besser profitiert haben.“
Dieser Effekt war auch noch nach eineinhalb Jahren stabil. Auch Julian Hellmann-Regen hat an der Studie damals mitgewirkt. Ihm ist vor allem wichtig, dass seine Patient*innen die Wahl haben. Die Charité möchte deshalb wieder Gruppentherapien anbieten können. Auch Iris sucht derzeit nach einem Therapieplatz, um noch besser mit ihrer ADHS umgehen zu lernen.
“Wir alle sind unterschiedlich. Und ob nun meine Gehirnchemie ein bisschen anders ist als die von meinem Gegenüber oder nicht, am Ende bin ich trotzdem nur ein wertvoller Mensch und möchte auch so gesehen werden.“, sagt sie.