Adipositas

Eine neue App soll helfen

07:39 Minuten
Illustration: Übergewichtiger Mann steht still und benutzt eine Laufmaschine, um mit dem Hund Gassi zu gehen.
Knapp 200 Euro kostet die App Zanadio bisher monatlich. © imago / Ikon Images / Gary Waters
Von Carina Fron |
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Krankhafte Fettleibigkeit zu behandeln ist hoch komplex und langwierig. Mit dem Digitale-Versorgungs-Gesetz soll nun eine App verschrieben werden können, die Betroffene beim kontrollierten Abnehmen unterstützt.
"Adipositas ist ja tatsächlich nicht nur ein hochaktuelles Thema, sondern für mich auch seit Jahren ein persönliches Thema. So ein bisschen mein Steckenpferd."
Als Forscherin hat die Psychologin Nora Mehl vor allem interessiert, wie automatisiert Essverhalten abläuft. Also warum nehmen manche Menschen den Schokoriegel an der Kasse mit, obwohl sie eigentlich keinen Hunger haben? Schuld daran, so die Psychologin, ist eine Art innerer Autopilot, der bei Menschen mit krankhaftem Übergewicht besonders ausgeprägt ist. Um ihnen zu helfen, hat Nora Mehl "aidhere" mitgegründet. Ihr erstes Produkt: Zanadio.
"So heißt die App und fokussiert sich auf drei Bereiche, also auf den Bereich Ernährung, auf den Bereich Bewegung und auf den Bereich Verhalten."


Alles rund um die Essgewohnheiten wird erfasst und ausgewertet. Was, wann, wie und wie viel. Dazu liefert die App Ernährungstipps, Sportprogramme und via Videochat kann man jederzeit Kontakt zu Medizinern, Psychologen und Ernährungsberatern aufnehmen.
"Am Ende geht es darum, was zu finden, was zu dem jeweiligen Patienten passt, sodass der oder die Patientinnen es in ihren Alltag integrieren können."

Ein Angebot für Menschen auf dem Land

Billig ist das nicht: Knapp 200 Euro kostet die App bisher. Und das monatlich. Ab Oktober soll sich genau das aber ändern, nach Verabschiedung des Digitale-Versorgungs-Gesetzes sollen Ärztinnen und Ärzte Apps wie Zanadio verschreiben können. Ein echter Fortschritt also, denn bislang ist die Betreuung von Adipösen vor allem etwa in ländlichen Gebieten schwer.
"Ich komme aus einer Kleinstadt, wo außer meinem Hausarzt keiner da war, der mich unterstützt hat. Das war auch der entscheidende Grund, warum wir nach Berlin gezogen sind."
155 Kilo hat Gabriele Haase damals gewogen. Und das bei einer Größe von 1,65 Metern.
"Das kam so mit der Pubertät. Da kam so Jahr für Jahr immer ein Kilo mehr und mit meinen Schwangerschaften. Die sind alle drauf geblieben, komischerweise. Ja, es wurde immer mehr dann."
Zu dem Übergewicht kamen die üblichen Begleiterkrankungen: Bluthochdruck, Diabetes und Gelenkerkrankungen. Und Depressionen.
"Wenn man in der Öffentlichkeit gegessen hat: ´Ach, die Dicke frisst schon wieder.` Das hat man echt zu mir gesagt."
Geholfen hat erst ein Magenbypass. Die heute 55-Jährige hat 105 Kilo abgenommen. Aber der Eingriff hat Folgen: Bis heute verträgt Gabriele Haase so gut wie keine Kohlenhydrate, bekommt davon Durchfall oder Erbrechen. Eine solche Magenoperation wird daher auch nur bei besonders starkem Übergewicht durchgeführt.
"Jedes Kilo, was abgenommen wird, ist sehr, sehr wichtig für die Gesundheit. Und dazu kann ich nur raten, ob mit OP oder ohne OP."

App könnte mit Versorgungslücke schließen

Und da kommt die App ins Spiel: Denn ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland ist adipös, also krankhaft übergewichtig.
"Das Entscheidende ist, dass die Krankenkassen die Adipositas als Krankheit anerkennen, die auch in den Regelleistungskatalog der Kostenübernahme übernommen wird."
Genau das ist bislang nicht der Fall, weiß Diana Rubin. Die Medizinerin leitet das Zentrum für Ernährungsmedizin im Vivantes Klinikum Nord in Berlin. Adipositas galt noch bis Juli 2020 als selbst verschuldet. Meist werden bislang auch keine langfristigen Therapien zur Behandlung der Ursachen von krankhaftem Übergewicht von den Krankenkassen voll erstattet.
Maximal 70 Prozent werden zugezahlt, wenn die klassische Therapie, bestehend aus Ernährungs-, Sport- und Verhaltenstherapie. Konkret sind das sechs Termine, teilweise Gruppentherapien, über ein halbes Jahr verteilt.

Patienten sollten intensiver betreut werden

"Wir erfüllen damit im Prinzip die Vorgaben, die meistens von der Krankenversicherung gegeben werden, damit man sagen kann, dass der Patient ein multimodales Programm durchlaufen hat, aber ich würde mir eine höhere Intensität wünschen."
Eine höhere Intensität und eine längere Laufzeit: Zwölf anstelle von sechs Monaten, so wie es die aktuellen Leitlinien zur "Prävention und Therapie der Adipositas" auch vorsehen - mit wöchentlichen Terminen. Das wäre perfekt, sagt Diana Rubin.
"Es gibt Analysen aus Krankenkassen-Daten, die zeigen, dass von den adipösen Patienten in Deutschland nur drei Prozent der Patienten einer solchen Therapie zugeführt werden, die eigentlich jeder Patient bekommen müsste."

Krankenkassen weisen Vorwurf zurück

Die Medizinerin verweist dabei auf den "Versorgungsreport Adipositas" der DAK aus dem Jahre 2016. Auf Nachfrage streiten die Krankenkassen AOK, TK und Barmer den Vorwurf ab, dass sie zu wenig für adipöse Menschen tun würden.
Prinzipiell würden alle Kassen auch präventive Maßnahmen finanzieren, so die Krankenkassenvertreter. Für Diana Rubin ist das zu wenig. Die Medizinerin sagt auch: Ein umfassendes multimodales Programm auf wissenschaftlicher Basis zu finden, sei nicht einfach.
"Zudem ist es so, dass es kaum Anbieter gibt für diese Therapien, was wahrscheinlich auch an der finanziellen Unsicherheit liegt."

Insulin beeinflusst das Gewicht

Unser Essverhalten ist nicht immer eine bewusste Entscheidung, erklärt Oberarzt Martin Heni vom Universitätsklinikum Tübingen. Sein Forschungsfeld: Wie hängen das Gehirn und der Stoffwechsel zusammen. Insulin ist hier ganz wichtig. Das Hormon steuert spezifische Hirnareale.
"Das sind Areale, die unter anderem dafür zuständig sind, dass das Gehirn merkt, ich habe gerade was gegessen und ich soll jetzt nicht weiter essen."
Was passiert, wenn Insulin im Gehirn nicht richtig wirkt, zeigt die aktuelle Studie von Martin Heni und seinem Team. Da erhielten 15 dickleibige, aber gesunde Männer und Frauen professionelle Hilfe, um sich gesünder zu ernähren und sich mehr zu bewegen. Gleichzeitig wurde die Insulinwirkung in ihrem Gehirn gemessen. Und es zeigte sich: Eine gute Insulinwirkung führte zu schneller und dauerhafter Gewichtsreduktion. Insulinresistenz hingegen lässt die Betroffenen kaum abnehmen.
"Also unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Insulinresistenz des Gehirns es dem Einzelnen, der davon Betroffenen ist, schwieriger macht abzunehmen und dass es dazu führt, dass er ein Risiko hat, Fett da abzulagern, wo man es nicht so gerne haben möchte, nämlich im Bauch."
Für diesen Effekt soll eine Insulinresistenz im Hypothalamus verantwortlich sein, vermutet der Forscher. Darauf deuten die Gehirnmessungen von 112 Probanden hin, so wie auch Ergebnisse aus früheren Studien an Mäusen. Die Insulinwirkung im Gehirn zu verbessern, könnte also Menschen mit Adipositas helfen, so die Theorie.

Nach zwölf Monaten ist wieder Schluss

Krankhaftes Übergewicht zu behandeln, ist also hochkomplex und langwierig. Deshalb ist eine App wie Zanadio zwar prinzipiell gut, sie kann aber nur Grundlagen für eine Lebensstilveränderung schaffen. Zumal auch die App zeitlich begrenzt: Nach zwölf Monaten muss ein adipöser Mensch wieder allein klarkommen.
"Ich werde immer adipös bleiben. Auf jeder Überweisung steht Adipositas permagna Grad 3. Und wenn ich dann zum Arzt komme: ‘Hä, sie sind doch gar nicht dick’. Sag ich, ich war aber dick und leide immer noch."
Unterstützung bekommt Gabriele Haase in ihrer Selbsthilfegruppe. Und genau das fehlt in vielen Behandlungen: eine langzeitige psychologische Betreuung, um nicht rückfällig zu werden und um über die Narben der Stigmatisierung hinwegzukommen.
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