Die Ausstellung "Blinde Blicke. Sehen und Nichtsehen bei Menzel." ist vom 08. Dezember 2015 bis 21. Februar 2016 in der Alten Nationalgalerie in Berlin zu sehen.
Absoluter Dokumentarist seiner Gegenwart
Anlässlich des 200. Geburtstags von Adolph Menzel hat das Kupferstichkabinett der Alten Nationalgalerie in Berlin eine kleine aber feine Studioausstellung zusammengetragen. "Blinde Blicke. Sehen und Nichtsehen bei Menzel" zeigt radikale Bleistift- und Kreidezeichnungen des Künstlers.
Es gibt spannenderes als das Konzert! 1871 zeigt Adolph Menzel Damen und Herren im legendären Berliner Konzerthaus Bilse, wie sie auf ihren Stühlen hin- und herrücken, sich vor- oder zurückbeugen und nur zweierlei wollen: Sehen - und gesehen werden.
Oder die Dame mit dem Opernglas. Menzel zeichnet sie mit farbiger Kreide aus leichter Obersicht und von hinten: So sieht man ihren Rücken, ihre schwarzen Haare, und wie ihr vorne aus dem Kopf ein Opernglas wächst. Wohin sie blickt, bleibt offen.
Noch unverschämter wirken die beiden herausgeputzten Städter, die mit dem Rücken zum Betrachter an einer Balustrade stehen. Laut Titel - so Kurator Heinrich Schulze Altcappenberg - betrachten sie das Meer.
"Hier sehen wir nur - kein Meer! Hier sehen wir zwei Leute, die angestrengt, einer zumindest angestrengt, in die Ferne blicken, und dort, wo man in der romantischen Kunst - Caspar David Friedrich usw. - dann das Panorama erwarten würde, bleiben wir bei dem Betrachter stehen. Denn man sieht nichts dahinter! Es ist ein abstrakes Blau. ... Er schaut ins Nichts - aber äußerst angestrengt dabei."
Tradierte Sehgewohnheiten werden frech ignoriert
Was Menzel hier treibt empört, irritiert und - verstört. Mit unglaublicher Frechheit ignoriert er tradierte Sehgewohnheiten, die bisher den Blick des Betrachter durch Kompositionen oder Personen in ein Bildgeschehen hineinzogen und lenkten. Stattdessen zeigt er Menschen, die dem Betrachter ihre Rückseite zeigen, weil sie selbst etwas sehen. Für den Betrachter aber bleiben es "blinde Blicke", da Menzel ihm das Ziel des Sehens nie enthüllt.
Schulze: "Das heißt: Wir bleiben auf der gleichen Ebene, auf der Menzel gearbeitet hat. Wir kommen nicht in das Bild rein, sondern wir sind im Bild: Sind selber im Bild, im Prozess des Sehens - und das verstört erst einmal sehr. Und dann fragt man sich: "Was soll das eigentlich?" Und dann ist die einzige Antwort natürlich: Der will uns hier kein Meer zeigen, kein Panorama zeigen. Der will uns zeigen, wie Leute schauen, in ein Abstraktum. Aber der Augenblick, der Prozess, die Aktivität des Blickens, das ist das eigentliche Thema."
Erstmals zeigt eine Ausstellung, dass Adolph Menzel den spontanen Akt des Sehens zu einem künstlerischen Thema entwickelte. Wie ein roter Faden zieht sich Sehen und Nicht-Sehen durch sein zeichnerisches Werk: Immer wieder hält er die spontanen Blicke von Männern, Frauen und Kindern fest, die mit ihren eigenen Augen auf die rasant sich verändernde Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts blicken - oder sich ihr durch Schlafen entziehen.
Der Künstler als Dokumentarist seiner Gegenwart
Menzel hatte das Zeichnen in den 1830er-Jahren in der väterlichen Lithographie-Werkstatt gelernt. Im Laufe seines Lebens schuf er tausende Arbeiten auf Papier, die ihm als eigenständige Kunstwerke galten. Und allein die Alte Nationalgalerie besitzt 85 seiner Notizbücher.
Heinrich Schulze Alt-Cappenberg:"Da sieht man das sofort, wie Beschleunigung, wie Veränderung, wie dieses ständige Beobachten bei ihm zur Methode wird. ... Es ist überliefert: Er besaß einen Mantel mit neun Innentaschen, in jeder ein anderes Skizzenbuch mit Bleistiften - ... Er war ein absoluter Dokumentarist seiner Gegenwart."
Einer, der im Laufe seines 90-jährigen Lebens immer konsequenter auf das Unten der Gesellschaft blickte. Der ein so großartiges Gemälde wie das "Eisenwalzwerk" malte und die Freiheit der Zeichnung über alles schätzte.
"Er scheut vor nichts zurück. Er scheut vor der Ratte nicht zurück, er scheut vor dem Klo nicht zurück, vor Besoffenen, vor den Abrisskanten. Das wäre alles etwas gewesen, was in keinem - weder im 19. noch im 20. Jahrhundert - in keinem großen Gemälde salonfähig oder verkaufsfähig gewesen wäre. Das heißt: Er probiert! Das ist sein Labor."
Nicht-Sehen wird auf die Spitze getrieben
In dem findet sich auch Grausliges. Die kleine, großartige Ausstellung, die hoffentlich einen Auftakt bildet für ein umfassenderes Projekt über das Sehen bei Menzel, schließt mit farbigen Kreidezeichnungen, in denen der Künstler das Nicht-Sehen auf die Spitze treibt: Er schnitt seinen Protagonisten die Augen aus.
"Diese Art, das man genau die Augenpartie löscht, hat etwas Aggressives, hat etwas richtig Verletzendes. ... Das ist bisher auch so interpretiert worden. ... Wir sehen heute: ... Er entindividualisiert seine Stücke, indem er das, was sie am Allerehesten charakterisiert - nämlich das Gesicht, das Auge -, herausnimmt."
Das klingt sehr nach dem rationalen Beobachter Menzel. Doch der konnte auch jähzornig werden. Vielleicht erkannte er vor den um 1850 entstandenen Zeichnungen plötzlich, dass die Blicke der in sich ruhenden alten Bäuerin oder der sich madonnenhaft ihrem Kind zuwendenden Mutter gestrige Blicke waren, dass sie zu sehr der Malerei alter Meister glichen. Zwei Jahre nach der Revolution von 1848 hinkten diese idealisierenden Blicke der neuen Zeit hinterher.
Nur die aber interessierte Menzel.