Adoptiere einen Navajo-Indianer!

Von Jan Tussing |
Auf einer Fläche so groß wie Bayern wohnen heute 270.000 Navajo-Indianer in einem Reservat im US-Bundesstaat Arizona. Fast die Hälfte von ihnen lebt unterhalb der Armutsgrenze, vor allem die Älteren. Eine amerikanische Hilfsorganisation versucht seit 25 Jahren, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern.
So hört sich eine vom Aussterben bedrohte Sprache an. Navajo.

Leupp ist eine kleine Indianersiedlung im Reservat der Navajo-Indianer im Norden von Arizona. Rund 270.000 Navajo-Indianer leben auf einer Fläche, die etwa so groß ist wie der Freistaat Bayern. Hier im Versammlungshaus der Senioren findet heute eine kleine Zeremonie statt und die Vorbereitungen sind in vollem Gange.

Kate: "Wir kommen zwei Mal im Jahr. Und jedes Mal wenn ich komme schaue ich, wie es ihnen gesundheitlich geht."

Kate Maxwell Stevens lehrt Ernährungswissenschaften am Community College in Salt Lake City in Utah. Die Amerikanerin ist selbst Indianerin vom Stamm der Komantschen und kümmert sich um die Gesundheit der Navajo.

Kate: "Jetzt fragen wir danach, wie sie den Winter überstanden haben. Wir stellen Fragen wie: Wie war dein Winter, warst du krank, hattest du genug zu essen, hattest du genug Feuerholz? Hattest du ausreichend Wasser? Viele hier verstehen nicht, wie wichtig das ist und dass viele hier in dem Reservat keinen Wasseranschluss haben. Und dass sie ihre Häuser nur mit Feuerholz heizen und auch damit kochen."

Adopt a native elder – adoptiere einen Stammesältesten, so heißt die Hilfsorganisation, die Linda Myers vor 25 Jahren gegründet hat. Die Amerikanerin sammelt Nahrungsmittel und Hilfsgüter für ein Volk, von dem die Hälfte weder fließend Wasser noch Strom hat. Linda und Kate verbringen mehrere Wochen auf dem Reservat. Jeden Tag in einem anderen Dorf, um zu helfen.

Seit heute früh bereiten sie und ihre 25 freiwilligen Helfer alles für das Mittagessen vor. Es ist ein besonderer Tag, der bereits mit einer Zeremonie am Morgen begonnen hat. Denn Schenken spielt in der Kultur der Navajo, der Dine – wie sie sich selbst nennen eine wichtige Rolle.

Kate: "Wenn wir den Alten etwas schenken, dann schenken sie uns etwas zurück. Das ist Teil eines Kreises und eines der wertvollsten Dinge, die viele Menschen nicht verstehen. Du musst mehr verschenken, als du jemals wieder zurück bekommen kannst."

Schenken ist ein spiritueller Akt. Und bereits am frühen Morgen – haben die Helfer den Tag mit einer gemeinsamen Zeremonie begonnen. Damit sich jeder über den Akt des Schenkens bewusst wird, haben die Freiwilligen heute auf das Frühstück verzichtet sagt Kate.

Kate: "Jeder fastet vor der Ausgabe des Essens am Mittag, je nach dem was das Fasten für jeden einzelnen bedeutet. Aber die Idee, um die es geht ist, dass wir Menschen Nahrung bringen, die Hunger haben, und dass wir Respekt haben vor Menschen, die hungrig sind."

In der Küche des Seniorenheims ist die Zubereitung des Essens in vollem Gange. Es duftet bereits gut. Und während die Geschenke und Hilfsgüter auf einer Seite des Raums aufgebaut werden, treffen die Navajo-Stammesältesten ein. Sie werden begrüßt wie alte Freunde.

Kate: "Wenn du dir alte Hollywoodfilme anschaust, und ich bin sicher die sind auch in Deutschland bekannt, siehst du immer wieder die Männer mit dem Federschmuck, Adlerfedern, und die Federn gehen herunter bis auf den Boden. In Hollywood wurde immer behauptet, das sei ein Häuptling. Aber so etwas gibt es gar nicht in unserer Kultur. Es ist eher ein Geschäftsführer, der vom Volk ausgesucht wird. Wenn er das gut macht, dann verdient er sich das Recht ein Führer zu sein. Und wenn er erfolgreich ist, dann verdient er eine Feder."

Viele der Stammesältesten kommen durch die Tür. Sie gehen gebeugt, einige werden im Rollstuhl von ihren Angehörigen in den Raum gefahren. Keiner von ihnen ist jünger als 70. Und obwohl alle selbst Familie haben, wurden sie adoptiert. Symbolisch zumindest. Denn die Armut unter den Navajos ist groß sagt Professorin Kate Stevens.

Kate: "Ich habe viele Studenten jedes Semester, und wir sprechen über die adopt a native elder-Organisation. Ich erzähle, was wir hier machen - gerade in Bezug auf Ernährung und Unterernährung. Ich fange immer mit Arizona an, und meine Schüler denken, ich rede über Afrika. Aber ich erzähle immer von Arizona."

Zwei Mal im Jahr kommt die Organisation nach Leupp. Ein staubiges, trauriges und kleines Städtchen im Süden des Reservats. Das Seniorenheim ist karg und öde, eingezäunt von einem Maschendrahtzaun. Gründerin des Programms, Linda Myers, denkt sich immer was Besonderes aus, um die alten Menschen zu unterhalten.

Heute wird getanzt. Linda fordert die Männer auf mit einem als Frau verkleideten Besen zu tanzen. Wer den Saal am lautesten zum Lachen bringt gewinnt eine Decke.

Es ist ein skurriler Anblick, wenn alte Indianer mit einem Besen tanzen sollen. Ist das nicht eher entwürdigend? Gar nicht, erklärt Linda. Die Stammesältesten der Navajo haben Spaß, auch wenn es so aussieht, als ob sie sich selbst durch den Kakao ziehen. Und das Vertrauen zu Linda und ihrer Organisation ist so groß, dass keine Hintergedanken im Spiel sind.

Dieser Tag wird den alten Menschen in Erinnerung bleiben, denn der Alltag ist in der Regel eher trist. Fast die Hälfte der Navajo-Indianer lebt unterhalb der Armutsgrenze. Auf dem Reservat gibt es meist kein Wasser,- oder Stromanschluss. Zum nächsten Geschäft muss man meilenweit mit dem Auto fahren – und das Benzin ist teuer. Im Schnitt verdient ein Navajo nur 1300 Dollar im Jahr. Das reicht weder für Essen, noch fürs Leben. Die Menschen sind auf Hilfsorganisationen angewiesen. Fintje ist eine der 25 freiwilligen Helfer. Die gebürtige Holländerin kommt seit zehn Jahren regelmäßig nach Leupp.

Fintje: "Wir vergessen die kleinen wichtigen Dinge im Leben. Im ersten Jahr habe ich Waschmittel als Geschenk mitgebracht- Leute haben geheult und die Flaschen umarmt. Wenn du kein Geld für Essen hast, hast du auch kein Geld für Waschmittel."

Fintje hat vor einigen Jahren eine Navajo-Stammesälteste adoptiert.

Fintje: "Was wir als selbstverständlich sehen und woran wir nicht denken, ist für sie etwas Besonderes. Jetzt siehst du das mit ganz anderen Augen."

Über die Jahre haben sich tiefe Freundschaften zwischen den Amerikanern und den Ureinwohnern gebildet. Obwohl manche der Navajo-Stammesälteren noch nicht einmal Englisch verstehen. Einige der Menschen sind annähernd 100 Jahre alt und haben die grausame Politik der amerikanischen Bundesregierung noch am eigenen Leib erlebt. Zu den weißen Amerikanern hier aber haben sie Vertrauen gefasst und genießen sichtlich das Zusammensein.

Mary arbeitet als Übersetzerin. Die 50-jährige Navajo-Frau ist Lehrerin und hat außerhalb des Reservats studiert. Nach ihrem Studium kehrte sie wieder zu ihrem Volk aufs Reservat zurück. Sie spricht beide Sprachen Navajo und Englisch fließend.

Mary steht am Kopfende des Raumes und übersetzt die Worte der Stammesältesten. Sie fährt regelmäßig mit Linda aufs Reservat um die Hilfsgüter zu verteilen. An Tagen wie heute freut sie sich wie ein Kind.

Mary: "Mein Herz schreit auf und sagt 'Ja', denn es gibt keinen netten Lebensmittelladen auf dem Reservat. Die Preise dort sind so hoch und das obwohl viele unserer Einwohner wie in der Dritten Welt leben."

Mary selbst lebt mit ihrem Mann Harry in einem Hogan. So heißt das traditionelle Wohnhaus der Navajo, ein Holzbau, der aus aufgeschichteten Baumstämmen besteht, und dessen Fugen mit Lehm ausgefüllt sind. Allerdings hat sie sich an die Annehmlichkeiten der Stadt gewöhnt. Ihr Hogan ist daher mit Zement ausgelegt, Teppiche liegen auf dem Boden, und sie hat fließendes Warmwasser.

Mary: "Der Hogan hat Zementboden, darauf liegen nette Teppiche, sie haben alles Moderne, was man auch in einer städtischen Wohnung sieht. Alle Annehmlichkeiten mit drei Zimmern und zwei Bädern. So was sieht man in dem Reservat nicht allzu oft."

Bis heute leben die Indianer im Reservat strikt getrennt vom Rest der USA. Gesellschaftlich und politisch. Sie haben ihre eigenen Gesetze, ihre eigene Polizei, und sie zahlen auch keine Steuern. Daher sind soziale Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser auch fast nicht vorhanden. Die Navajos leben in den USA wie Fremde in einem Paralleluniversum. Viele Amerikaner wissen nichts über die Ureinwohner, viele interessiert es auch nicht. Es gibt so gut wie keinen gemeinsamen Austausch. Und das, obwohl die US-Regierung über Jahrhunderte versucht hat, Indianer zu assimilieren und ihre Kultur auszulöschen. Mary hat es am eigenen Leib erfahren müssen.

Mary: "Ich bin in ein Internat gegangen, wo mir verboten wurde meine Sprache zu sprechen. Ansonsten wurde mir ein Stück Seife in den Mund gedrückt. Und das ist gerade mal 30 Jahre her. Wenn ich mich falsch benommen habe - die Schulbehörden sind dem Büro für indianische Angelegenheiten unterstellt -, dann wurde ich verprügelt. Verprügelt! In einer Schule!"

Kein Wunder, so ist das Misstrauen der amerikanischen Ureinwohner gegenüber den staatlichen Behörden immer noch sehr groß. Die Indianer wurden in Reservate verfrachtet, und dort oft von christlichen Organisationen missioniert und assimiliert.

Mary: "Wir hatten keine staatlichen Schulen in dem Reservat, die gibt es erst seit 15 Jahren. Davor gab es nur Internate, die von der US Regierung kontrolliert wurden. Heute schaue ich zurück und ich weiß: Ihr Zweck war nicht, mich zu unterrichten, sondern sie hatten den einzigen Zweck mich zu assimilieren, mich von meiner Navajo Kultur zu entfernen. Sie wollten mich weiß machen."

Kinder wurden ihren Eltern weggenommen, damit sie ihre Kultur vergessen. Viele junge Navajo stehen heute vor dem Dilemma, dass sie ihre eigene Sprache nicht mehr verstehen, weil ihren Eltern verboten wurde, sie zu lehren.

Mary: "Heute weiß es jeder, und wir erzählen es unseren Kindern, dass wir ein historisches Trauma durchgemacht haben. Viele Menschen in meinem Alter können damit nicht umgehen, denn es hat sie so sehr mitgenommen und psychologisch geschwächt, dass sie mit dem ganz normalen alltäglichen Leben nicht klar kommen."

Die Erinnerung an den Völkermord und die grausame Auslöschung der indianischen Kultur ist noch sehr präsent und Szenen des gemeinsamen Feierns sind äußerst selten. Das adopt a native elder-Programm hat 25 Jahren lang Vertrauen aufgebaut. Dass sich die Dine, also die Navajo-Stammesältesten, von weißen Amerikanern adoptieren lassen, ist ein Beweis größter Nähe und Freundschaft.

Mary: "Die Mehrheit der Leute in dem Programm haben die größten Herzen, die ich je gesehen habe. Ich bin mit Linda zu fast allen Nahrungsvergaben gefahren. Und die Leute, die hier freiwillig mitarbeiten, haben sich sogar für etwas entschuldigt, was sie in Zeitungen oder Büchern gelesen haben. Ich bin kein nachtragender Mensch. Ja, es ist mir passiert, aber ich bin stolz sagen zu können, dass ich der Mensch sein kann, der ich sein will. Ich bin niemand, der gebrochen wird."

Fintje und die vielen anderen freiwilligen Helfer des Programmes kommen schon seit Jahren nach Leupp. Die gebürtige Holländerin kümmert sich ganz persönlich um das Wohlergehen ihrer adoptierten Stammesältesten. Daraus ist eine enge Freundschaft gewachsen.

Fintje: "Ich bin mit meiner Stammesältesten zusammen auf dem Reservat geblieben. Und sie hat kein fließendes Wasser. Ich hatte kein anderes Wasser als den Kanister im Auto. Den haben wir am Morgen dann genommen, um unsere Hände zu waschen und die Zähne zu putzen. Und dann sind wir zu einer Tankstelle gefahren und haben uns dort geduscht. Das ist der Alltag."

Inzwischen haben die Ältesten angefangen zu essen. Die Geschenke wurden alle verteilt. Fintje ist für den heutigen Tag sehr dankbar, denn die Begegnungen mit den Navajo ist für sie vor allem eine große persönliche Bereicherung.

Fintje: "Es ist unmöglich, hier zu sein und nicht verwandelt zurückzukommen. Du lernst, mit viel weniger auszukommen. Wenn ich was kaufen gehe, sag' ich mir immer, das brauche ich doch gar nicht, noch ein paar Schuhe oder eine Jacke. Stattdessen kaufe ich für das Reservat."

Und trotz der bitteren Armut haben auch die Stammesältesten ihre Geschenke verteilt. Sie kommen mit kleinen Schritten auf ihre Helfer zu und hängen ihnen Ketten um den Hals. Kostbare, dekorative Indianerketten aus wertvollen Türkisen.

Fintje: "Immer wieder sind wir betroffen angesichts ihrer Großzügigkeit. All die Dinge, die sie geben, wenn man weiß, wie wenig sie besitzen, und dass sie nur nehmen, was sie wirklich brauchen. Wenn sie mal einen Wunsch aussprechen, dann weil sie etwas wirklich brauchen. Aber sie sind sehr stolze unabhängige Menschen, voller Würde und ich bin immer zu Tränen gerührt, wenn sie uns beschenken. All die Ketten, die Türkise, die ich trage sind von meiner Alten, und sie hat nichts. Du lernst hier wirklich Menschlichkeit."