Adultismus-Theorie

"Erziehen ist mit einem Machtgefälle verbunden"

09:22 Minuten
Das Foto zeigt Kita-Kinder, die draußen im Matsch spielen.
Bedürfnisse ernst nehmen, auf Augenhöhe kommunizieren: Kita-Kinder beim Spielen. © dpa / picture alliance / Carsten Rehder
Anne Sophie Winkelmann im Gespräch mit Ute Welty |
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Die Erzieherin Anne Sophie Winkelmann mag das Wort "Erziehung" nicht. Sie will "Begleiterin" sein und den Kindern auf Augenhöhe begegnen. Hinter dieser Kritik am dominanten Verhalten der Erwachsenen steht die "Adultismus"-Theorie.
30 Jahre UN-Kinderrechtkonvention: Das "Übereinkommen über die Rechte des Kindes" wurde am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen. Sie legt wesentliche Standards zum Schutz der Kinder fest und stellt ihren Wert und die Bedeutung ihres Wohlbefindens heraus. Gleich im zweiten der 54 Artikel der Kinderrechtskonvention heißt es, dass Kinder nicht diskriminiert werden dürfen. Was heißt das genau?
Anne Sophie Winkelmann hat für sich darauf eine Antwort gefunden. Sie arbeitet als Erzieherin in einem Kinderladen in Berlin und erprobt dort täglich, wie man trotz des Altersunterschieds mit Kindern auf Augenhöhe agieren kann. Als Referentin gibt sie ihr Wissen in Schulungen auch an andere weiter - zum Beispiel in einem Projekt, in dem das Deutsche Rote Kreuz die Erzieherinnen und Erzieher der DRK-Kitas fortbilden lässt. Schon vom Begriff Erziehung will Winkelmann nichts wissen, weil der mit einem "Machtgefälle" verbunden sei: "Ich erziehe niemanden", betont sie.
(ahe)

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Am 20. November 1989 ist es soweit, die Vereinten Nationen beschließen die Kinderrechtskonvention. Darin ist unter anderem verankert, dass Kinder nicht diskriminiert werden dürfen, nicht aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion und nicht aufgrund der Stellung der Eltern. Was aber ist mit der Diskriminierung aufgrund des Alters? Die Wissenschaft beschreibt das ungleiche Machtverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen als Adultismus.

Der Begriff Adultismus ist von "adult" abgeleitet, dem englischen Wort für Erwachsene. Die Adultismus-Theorie kritisiert das ungleiche Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern, das zu Unterdrückung und Diskriminierung von jüngeren Menschen führen könne. Die Theorie fordert dagegen, Kinder mit ihren Gefühlen, Meinungen und Bedürfnissen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft zu sehen. Wer zu einem Kind etwas sagt wie: "Räum gefälligst deine Jacke weg" oder vom Kind fordert, etwas zu tun, einfach, "weil ich es dir sage", der kommuniziert mit dieser Formulierung auch, dass er die Macht hat, über das Kind bestimmen zu dürfen. Das Konzept des Adultismus kritisiert es also, wenn sich Erwachsene ohne gute Gründe über Kinder stellen, etwa aus Bequemlichkeit oder Dominanz - einfach, weil sie es können.

Anne Sophie Winkelmann ist Erzieherin in Berlin und involviert in ein großes Projekt des Deutschen Roten Kreuzes, und zusammen mit dem DRK hat Anne Sophie Winkelmann auch ein Bilderbuch zum Thema veröffentlicht, "Machtgeschichten" heißt es. Kindern auf Augenhöhe begegnen – müssen Erwachsene dafür in die Knie gehen oder auf die Knie, sich kleinmachen?
Winkelmann: Das kann in der einen oder anderen Situation auf jeden Fall sehr sinnvoll sein, wirklich auch runterzugehen, um sich in die Augen schauen zu können. Das kann es durchaus auch bedeuten. Im übertragenen Sinne geht es dabei darum, die Dominanzposition als Erwachsener zu verlassen und als Mensch einem anderen Menschen gegenüberzustehen.
Welty: Wann und wie in Ihrem Arbeitsalltag haben Sie entdeckt: "Auch ich missbrauche meine Position als Erwachsene"?
Winkelmann: Ach, das passiert mir öfters mal. In der Geschwindigkeit von unserem Alltag schnell mal zu einem Kind zu sagen, "zieh dir schon mal die Jacke an" oder "wir gehen jetzt raus, das geht gerade nicht anders" - also mir nicht die Zeit zu nehmen, wirklich hinzuhören, was ist gerade bei dem Kind los, warum möchte es das vielleicht gerade nicht tun, was ich sage.

Die Eltern sagen, wo es langgeht

Welty: Ist das vor allen Dingen eine Frage von Zeit, von Zeitersparnis auch, weil man denkt, es geht jetzt schneller, wenn man nicht das Diskutieren anfängt?
Winkelmann: Also, ich glaube, in der Einrichtung geht es wirklich oft um Zeit und auch in den Familien. Es ist aber nicht so, dass wir es nicht möglich machen können, weil die Zeit fehlt. Wir sind es gewohnt, unter Zeitmangel schnell zu reagieren, und wenn wir schnell reagieren, dann kommt das Gewohnte aus uns heraus. Das Gewohnte ist, Eltern sagen, Erwachsene sagen, wo es langgeht und Kinder haben zu gehorchen. So tief steckt das in uns drin.
Welty: Was machen Sie anders, und was wollen Sie anders machen?
Winkelmann: Mir ist es total wichtig, vielleicht auch an dieser Stelle schon mal zu sagen: Es ist nicht immer möglich, alle Bedürfnisse von allen Kindern in der Einrichtung zu erfüllen. Das geht in der Familie vielleicht besser, in einer Einrichtung nicht. Das heißt, für mich würde es vor allem darum gehen, mich darum zu bemühen, dass die Kinder gesehen werden mit ihren Anliegen, mit ihren Wünschen, aber auch mit ihrem Widerstand, mit ihrem Ärger, den sie gerade darüber haben, dass die Dinge nicht so möglich sind, wie sie sich das wünschen.
Welty: Was heißt das konkret?
Winkelmann: Das heißt für mich, stehen zu bleiben, das Kind wirklich zu sehen, auch zu spiegeln. Ich sage dann: "Das macht dich jetzt wütend, dass ich sage, wir gehen jetzt raus, und du willst gar nicht rausgehen." Dann hole ich vielleicht gar nicht mal so groß aus zu erklären, warum das jetzt nicht möglich ist, sondern ich sage: "Mann, das ist blöd für dich, das verstehe ich, mir fällt gerade keine andere Lösung ein, kannst du trotzdem mitkommen oder hast du eine Idee?" Es geht um die Anerkennung, dass das für das Kind jetzt blöd ist, ganz schlicht und ergreifend.
Welty: Und das funktioniert schon?
Winkelmann: Ich weiß jetzt nicht, was Sie mit "schon" meinen, aber es funktioniert, ja.

Den Widerstand anerkennen

Welty: Man könnte ja auch damit rechnen, dass es mehr Widerstand gibt.
Winkelmann: Das kann auch sein, dass es dann mehr Widerstand gibt. Das kommt drauf an, das hat viel mit der Beziehung zu tun, die zwischen dem Kind und mir besteht, als Fachkraft. Wenn mehr Widerstand kommt, dann würde ich von mir erwarten, dass ich auch diesen Widerstand wieder anerkenne und dass der auch da sein darf.
Dann sage ich vielleicht: "Weißt du was, ich gehe schon mal mit den anderen in die Garderobe und komme gleich noch mal nach dir schauen." Also ich gebe dem Kind Zeit zum Beispiel, anstatt es jetzt, was vielleicht auch eine Lösung wäre, zu schnappen, in die Garderobe zu tragen und in die Schneehose zu stopfen, weil ich das Kind nicht alleine lassen darf oder weil mir jetzt einfach nichts mehr anderes einfällt. Das passiert ziemlich häufig.
Welty: Und gibt auf jeden Fall Brüllerei.
Winkelmann: Das ist einfach nur eine Überreaktion von uns Erwachsenen in dieser Ohnmacht und Hilflosigkeit, nicht mehr zu wissen, was wir jetzt machen sollen. Das haben wir nicht oft geübt.
Welty: Sie wollen auch schon im Kindergarten, im Kinderladen, in der Kita demokratische Prinzipien üben. Heißt das dann nicht im Klartext, dass immer dieselbe Gruppe von Kindern entscheidet, ob draußen oder drinnen gespielt wird?
Winkelmann: Nein, das ist bei uns wirklich sehr unterschiedlich, wer wann wie Lust hat, rauszugehen. Es gibt auf jeden Fall Kinder, die auch sehr viel Anziehungskraft haben. Das passiert dann, dass dann alle plötzlich da hingehen wollen, wo die hingehen, und das tun sie dann auch, weil diese Leute sie begeistern zum Beispiel. Da mische ich mich dann nicht ein.
Womit ich schon ein Problem habe, ist, wenn eine Mehrheitsentscheidung sehr knapp ausfällt oder auch wenn es nicht knapp ausfällt, also diesen Blick noch mal zu richten auf diejenigen, die jetzt nicht mit ihrem Anliegen gewonnen haben - mit denen noch mal zu sprechen und darauf zu achten, dass das nicht immer die gleichen Personen sind, die verlieren.
Generell finde ich Mehrheits-, Minderheitsentscheidungen auch nicht die beste Variante, aber wir haben im Moment keine Praxis von ausführlichen Konsensrunden. Das würde ich durchaus gerne etablieren. Ich kenne auch Läden, die das schaffen und die da schon sehr weit gekommen sind.
Diese ritualisierten Momente von demokratischer Mitentscheidung sind für mich nicht der einzige Weg, wie Kinder in der Kita mitentscheiden können. Es geht wirklich viel darum, in den kleinen Momenten zu sehen, was wird da geäußert, was sind da für Beschwerden enthalten in dem, was die Kinder uns gerade sagen oder wie sie reagieren, was sind da für Vorschläge enthalten und die wirklich in dem Moment auch aufzugreifen.

Auf Augenhöhe kommunizieren

Welty: Trotzdem stößt Demokratie ja an ihre Grenzen, wenn es um Gesundheit geht, wenn es um Sicherheit geht. Wie machen Sie diesen Unterschied klar, dass es eben auf die Augenhöhe nicht ankommt, wenn es darum geht, bei Rot auf die Straße zu rennen?
Winkelmann: Die Augenhöhe ist die Art und Weise, wie ich versuche, das zu kommunizieren. Also vielleicht reagiere ich erst mal, indem ich das Kind an die Hand nehme, dass es nicht losläuft oder ich sage: "Ich möchte, dass du deine Jacke anziehst, bei den Temperaturen möchte ich nicht, dass du ohne Jacke rausgehst". Aber die Art und Weise, wie ich das kommuniziere, wäre dann wieder die, dass ich von meinen persönlichen Grenzen spreche.
Also ich würde sagen: "Ich mache mir Sorgen, wenn du ohne Jacke rausgehst, dass du dich vielleicht erkältest. Das muss gar nicht sein, das kann gut sein, dass du dich gar nicht erkältest, aber ich mache mir diese Sorgen, und ich weiß, deine Eltern machen sich auch diese Sorgen, deswegen zieh mal bitte die Jacke an, geh mal raus, und dann gucken wir noch mal, wie warm es dir dann draußen ist." Das ist was ganz Anderes, als wenn ich sage: "Hier sind minus drei Grad, Jacke an, Schluss, aus."
Welty: Werden aus solchen Kindern bessere Erwachsene?
Winkelmann: Ich glaube, es ist auf jeden Fall eine Chance, die Erfahrung zu machen, gehört zu werden mit den eigenen Anliegen, auch die Erfahrung zu machen, dass das, was ich hier sage, was mir hier wichtig ist, auch zu Veränderung tatsächlich beiträgt.
Was wieder den Umgang mit Kindern angeht, macht es, glaube ich, einen sehr großen Unterschied, wie ich selber aufgewachsen bin und wie mit mir gesprochen wurde. Jede Generation hat wieder die Chance, ein Stück weit aus dieser selbstverständlichen Grenzüberschreitung und Gewalt von Erwachsenen gegenüber Kindern auszusteigen, weil sie selber wieder andere Erfahrungen gemacht haben.
Welty: Wen erziehen Sie schlussendlich?
Winkelmann: Ich erziehe niemanden. Das ist mir ganz wichtig. Ich mag diesen Begriff von Erzieherin auch überhaupt gar nicht.
Welty: Auch nicht die Eltern?
Winkelmann: Nein, erziehen ist für mich auch wieder verbunden mit so einem Machtgefälle. Da weiß wieder jemand besser, wo es langgeht, und darum geht es ja genau. Also ich würde mich als Begleiterin verstehen. Erziehung ist für mich kein wertvoller Begriff, muss ich tatsächlich sagen. Da geht es immer darum, dass es jemand besser weiß, wo es langgeht und jemand anders das zu lernen hat. Ich glaube, beide Seiten sind Lernende.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Anne Sophie Winkelmann: Machtgeschichten
Herausgegeben vom Deutschen Roten Kreuz
Verlag edition claus, Limbach-Oberfrohna 2019
204 Seiten, 15 Euro

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