Erwartung ohne Erwartung
Kommt die Utopie zu Weihnachten mit dem Messias? Der französische Philosoph Jacques Derrida hat über messianisches Denken und die Demokratie geschrieben. Er landete bei einer Formel, die immerwährenden Advent in Aussicht stellt − nur ohne Heiligabend und Bescherung.
"Ohrwurm" wäre vielleicht übertrieben. Doch eine vertraute Melodie dürften die Kirchgänger unter uns innerlich mithören, wenn wir jetzt den triumphalen Anfang jenes berühmten Adventslieds zitieren, das Protestanten und Katholiken gleichermaßen schätzen:
"Macht hoch die Tür, die Tor macht weit; / es kommt der Herr der Herrlichkeit."
So ist das mit dem christlichen Advent: Man weiß, worauf die Vorbereitungen hinauslaufen, nämlich auf die Feier der Geburt des Messias. Und im weiteren Sinne auf seine kalendarisch nicht fest fixierte Wiederankunft.
Vom christlichen Advent ist in Jacques Derridas verstreuten Bemerkungen zur Demokratie nicht explizit die Rede. Doch das Messianische, die Erwartung kommenden Heils, spielt auch bei dem jüdischen Denker eine gewichtige Rolle.
Denn für Derrida ist die höchste Form der Demokratie, jenseits aller real existierenden, die "kommende Demokratie" − französisch "démocratie à venir". Ihr Hauptmerkmal: Sie bleibt als solche inhaltlich unbestimmt.
Demokratie, bemerkte Derrida, "ist der einzige Name einer politischen Regierungsform, die in ihrem Begriff die Dimension des Inkommensurablen und des Zu-Kommenden trägt."
Wer nun überlegt, wie man etwas erwarten kann, von dem man praktisch nichts Genaues weiß, ist auf der richtigen Spur. Sie führt zu dem Werk "Marx & Sons", in dem Derrida die blendende Formel vom "Messianischen ohne Messianismus" geprägt hat, variiert auch als "Erwartung ohne Erwartung". Das ist eine Denkfigur, die man mit dem nötigen Übermut als immerwährenden Advent ohne Heiligabend und konkrete Bescherungsaussichten bezeichnen könnte.
Das geduldige "Vielleicht"
Was den korrekten Umgang mit der kommenden Demokratie angeht, legt sich Derrida, der sich am liebsten nicht festlegt, nicht fest. Er schreibt, der Anspruch des Kommenden schwanke zwischen "einem gebieterischen Befehl […] und dem geduldigen Vielleicht des Messianischen".
Trotz programmatischer Scheu vor Klartext: Leise Andeutungen zu der Demokratie-Leerstelle, die er durch seinen dekonstruktiven Spezial-Messianismus freigelegt hat, macht Derrida dann doch. Er erwähnt die "Thronbesteigung/[den]Antritt der Gerechtigkeit" − nicht ohne reflexhaft zu betonen, dieses Ereignis sei ohne bestimmten "Erwartungshorizont und ohne prophetische Vorausdeutung" zu denken. Dergleichen mag er ja nicht.
Ein anderes Mal bezeichnet er die "Erwartung ohne Erwartung" als "ein Versprechen der revolutionären Gerechtigkeit, das den gewöhnlichen Lauf der Geschichte unterbrechen wird" − wohlgemerkt ein Versprechen, dessen Wert nicht in der Einlösung liegt, sondern im Versprechen selbst ... Was ihm von klassenkämpferischen Marxisten ordentlich Schelte eingebracht hat.
Gleichwohl hat die Leerstelle des Kommenden in der Demokratie eine Vitalfunktion: Gerade in ihrer Unbestimmtheit hält sie die Tür für das Mögliche offen, zuerst und zuletzt zur Neuerfindung der Demokratie selbst. Das Kommende, das Noch-Nicht, treibt die Verwandlung des Bestehenden und Verfestigten voran ... Eine Kraftentfaltung, die auch der Utopie zugeschrieben wird, unter die Derrida seinen Messianismus allerdings nicht subsumieren möchte.
Demokratie erlaubt, alles zu kritisieren
Um Missverständnissen vorzubeugen: Derrida hat als politischer Kopf oft auch Griffiges zur Demokratie gesagt. Etwa, dass sie das einzige System sei, "in dem man prinzipiell das Recht hat oder sich nimmt, alle öffentlich zu kritisieren, einschließlich der Idee der Demokratie, ihres Begriffs, ihrer Geschichte und ihres Namens." Er selbst hat da lustvoll mitgemischt.
Aber! Eine Schnittmenge mit dem christlichen Advent, an dem heute vier Kerzen brennen, die hat nur Derridas "kommende Demokratie". Es ist die Erwartung in entkleideter Form. Zugegeben: Das hätte man auch direkter formulieren können – und fertig! Nur wäre das nicht nach Derridas Geschmack. Er hat einmal die Frage aufgeworfen:
"Eine Aufgabe, die durch eine einfache Erkenntnis […] [lösbar] wäre – wäre eine solche Aufgabe noch eine Aufgabe?"
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?