"Ägypten darf sich nicht zurückziehen"

Hamed Abdel-Samad im Gespräch mit Dieter Kassel |
In der Vergangenheit gehörte Ägypten zu beliebtesten Reisezielen im Mittelmeerraum. Doch mit der Arabellion brachen die Besucherzahlen um ein Drittel ein. Nun soll verlorenes Terrain zurückerobert werden. Zu Recht, meint der Politologe Hamed Abdel-Samad. Ägypten dürfe sich jetzt nicht zurückziehen.
Dieter Kassel: Auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin will Ägypten als offizielles Partnerland ab heute ausführlich darauf hinweisen, dass man auch für Reisende ein interessantes Ziel ist und nicht nur für Journalisten, die die Arabellion beobachten wollen.

Man weist deshalb jetzt darauf hin, dass man ein sicheres und vor allen Dingen ein interessantes Reiseland sei. Mein Kollege Jürgen König hat sich auf dem Messegelände angesehen, wie sich Ägypten in diesem Jahr auf der ITB präsentiert.

Korrespondentenbericht von Jürgen König (MP3-Audio) Bericht von der Internationalen Tourismusbörse von Jürgen König (MP3-Audio).

Jürgen König über den Auftritt des diesjährigen Partnerlandes Ägypten auf der Internationalen Tourismus-Börse in Berlin. Es gibt da nicht nur die erwähnten Hochglanzprospekte, sondern auch Hintergrundveranstaltungen, und die sind der Grund dafür, dass auch der in Deutschland lebende ägyptische Politologe und Autor Hamed Abdel-Samad mit auf der ITB ist. Morgen zum Beispiel wird er an einem Workshop teilnehmen, bei dem es um die Frage geht, welche Rolle der internationale Tourismus bei politischen Veränderungen spielen kann. Und ich habe ihn deshalb als erstes gefragt, ob denn dieser Tourismus politische Entwicklungen überhaupt beeinflussen kann.

Hamed Abdel-Samad: Tourismus kann zum Beispiel zu mehr Pragmatismus unter den Islamisten führen, die jetzt die Verantwortung für das Land übernommen haben. Und sie müssen sich jetzt darum kümmern, 85 Millionen Ägypter zu ernähren und Arbeitsplätze zu schaffen, sie müssen sich langsam von diesen alten Scharia-Konzepten verabschieden, dass man Alkohol verbieten muss, dass man Badestrände säubern muss von Bikinis und so weiter und dass alles islamisch konform wird. Jetzt machen die Muslimbrüder in Ägypten einen Rückzieher und sagen: Ja, wir sollen ja den Tourismus und die Hotels, alles eine Oase für die Touristen, so beibelassen, weil wir das auch wirtschaftlich so brauchen. Das könnte zu mehr Pragmatismus führen, Rationalität, und natürlich auch, indem Arbeitsplätze geschaffen werden. Dann kann die junge Generation auch ruhiger werden, dass dieser Protest auch irgendwann beendet wird.

Kassel: Das klingt sehr vernünftig – nun wissen wir aber, glaube ich, beide, dass Religion, egal welche Religion, nicht immer was mit Vernunft zu tun hat. Kann man sich denn darauf verlassen, dass die Wahlgewinner so pragmatisch auch bleiben werden?

Abdel-Samad: Wir haben ja, nachdem die Revolution ausgebrochen war, und die Probleme angefangen haben, haben wir einen interessanten Satz gesagt: Freiheit kann man nicht essen. Scharia aber auch nicht, und religiöse Gebote auch nicht. In einem Land wie Saudi-Arabien oder Iran, wo man große Reserven von Erdöl und Erdgas hat, und das ans Ausland bequem verkaufen kann und seine Bevölkerung dadurch auch ernähren kann, ist es möglich, sich in der religiösen Isolation zurückzuziehen. Aber in einem Land wie Ägypten und Tunesien, die vom Tourismus hauptsächlich leben, kann man so was nicht machen, weil indem man solche religiösen Gesetze einführt, schneidet man sich selbst ins eigene Fleisch, vernichtet Arbeitsplätze in einer Zeit, wo diese Länder auch sehr angewiesen sind auf neue Arbeitsplätze.

Kassel: Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie ja auch die Hoffnung, dass der Tourismus auch einen gesellschaftlichen Einfluss haben kann. Sie haben ja sinngemäß gerade gesagt, dass er eben dann extremen Islamismus verhindert. Auf der anderen Seite gibt es natürlich Beispiele wie Kuba, wo es Touristen gibt, die mit den Einheimischen – außer den wenigen, die im Tourismus arbeiten – eigentlich überhaupt nichts zu tun haben. In Ägypten ist es auch so, dass ja gerade auch traditionell die westlichen Touristen nach Oberägypten fahren, um sich die Pyramiden anzugucken, Nil-Kreuzfahrten sind noch beliebt, und dann natürlich irgendwelche Tourismusressorts am Roten Meer. Könnte es nicht dann in Ägypten auch diese Entwicklung geben, die Touristen können machen, was sie wollen, aber sie haben mit der einheimischen Bevölkerung auch kaum noch Kontakt?

Abdel-Samad: Ja, die Befürchtung habe ich natürlich auch, und es ist zum großen Teil auch so. Und es liegt nicht nur daran, dass die Ägypter diese Einmischung nicht wollen, sondern die Touristen selber wollen nicht den Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung haben. Sie wollen ihre Ruhe an den Stränden haben in Hurghada und Scharm El-Scheich, oder sie wollen ihre Nil-Kreuzfahrt, eine Reise in die Vergangenheit haben und mit der Aktualität des Landes wenig zu tun haben. Die Massen wollen das so, und so bleibt es.

Und trotzdem – und dennoch kommt es zwangsläufig zu Kontakten zwischen Ägyptern und Ausländern, und man hadert miteinander, man diskutiert miteinander, soweit man sich verständigen kann, und es kommt zu Bewusstseinsveränderungen auf beiden Seiten. Es gibt Touristen, die interessiert sind, neugierig sind, die neue Aspekte und neue Seiten an Ägypten kennenlernen, indem sie sich auf so ein Abenteuer einlassen, dass sie mal von der vorgeschriebenen Touristenroute oder von der Autobahn der Vorurteile sich abweichen und mehr Kontakt mit den Menschen haben, und es gibt auch Ägypter – das sind viele, die junge Generation vor allem –, die sehr neugierig ist, die will mit Westlern diskutieren, sie wollen auch über Politik mit denen reden, über ihre Gesellschaften: Wie funktioniert Demokratie, wie haben sie das geschafft? Und das kann man in einem Land wie Ägypten nicht verhindern, da natürlich die Strukturen anders sind als in Kuba. Kuba ist seit langer Zeit eine geschlossene Insel, wo kaum Einfluss von außen kommt, Ägypten ist mitten in der Welt, ist keine Insel, ist offen zum Mittelmeer, zum Roten Meer, und die Touristen kommen immer und immer wieder, egal in welcher Situation wir uns befinden. Deshalb glaube ich nicht, dass ein Land wie Ägypten in die totale Isolation sich zurückziehen kann oder zurückziehen darf.

Kassel: Aber dass man als Ägypten-Besucher eben auch mit der Realität konfrontiert wird, mit der sich im Moment so veränderten und uns zum Teil natürlich auch sehr volatilen Realität, das kann natürlich dann auch ein Problem sein. Wir haben gehört, dass der ägyptische Tourismusminister zwar behauptet, so extreme Ereignisse wie die Gewalt im Fußballstadion in Port Said und die Toten, das hätte gar nichts zu tun mit Tourismus. Kann man banal sagen, okay, wenn man nicht an diesen Ort fährt, schon – aber geht das, ist das nicht auch unmoralisch zu sagen, ich komme als Tourist in ein Land, und Gewaltvorgänge mit Toten interessieren mich nicht, haben mit mir nichts zu tun?

Abdel-Samad: Die Aussage vom Tourismusminister ist makaber eigentlich. Diese Trennung kann man nicht vollziehen, selbstverständlich auch, wenn ich an einem Strand irgendwo in der Welt liege, dann bin ich auch interessiert, was sonst in diesem Land geschieht. Und wenn ich von Massakern höre, von Unterdrückung von Frauen, von Gewaltexzessen auf offener Straße höre, dann bin ich betroffen, dann kann ich auch meinen Urlaub nicht genießen, es sei denn, es ist genau das, was ich will, ich will einen Strand, und sonst will ich mit dem Land nichts zu tun haben.

Aber viele Ägypten-Touristen, vor allem auch die Stammbesucher von Ägypten, interessieren sich für das Land, lesen Zeitungen – und wenn so was passiert, hört man davon nicht nur in ägyptischen Zeitungen mittlerweile, sondern auch in den deutschen Medien, und man wird dadurch betroffen, und deshalb ist es auch die Aufgabe der neuen Machthaber in Ägypten, dafür zu sorgen, dass solche Verhältnisse beendet werden, dass die Sicherheit wieder hergestellt wird, das Rechtssicherheit wieder etabliert wird, oder neu erfunden wird im Land – Rechtssicherheit hat es nie wirklich gegeben in Ägypten –, so dass man Touristen, aber auch ausländische Investoren auch mit gutem Gewissen einladen kann, nach Ägypten zu kommen.

Kassel: Die Anzahl der Touristen in Ägypten ist im letzten Jahr im Vergleich zum Jahr 2010 um mehr als 30 Prozent gesunken. Das kann man vielleicht in gewissen Grenzen auch verstehen, das war ein sehr aufregendes und sehr unsicheres Jahr. Nehmen wir aber mal an, trotz solcher Auftritte wie dem Ägyptens jetzt auf der ITB und anderen Maßnahmen würde das nicht besser. Man sagt ja, dass zwischen jedem achten und jedem vierten Arbeitsplatz in Ägypten – wenn man es auch indirekt zählt – es eine Abhängigkeit gibt mit Tourismus. Nehmen wir an, das würde nicht besser, die wirtschaftlichen Probleme würden dadurch verstärkt, dass die Touristen nicht kommen – was würde das politisch in Ihren Augen verursachen in Ägypten?

Abdel-Samad: Eine Katastrophe, weil wir haben eine junge Generation in Ägypten: 70 Prozent der Ägypter sind unter 30, 40 Prozent von denen – von den jungen Ägyptern – haben keinen Job. Und wenn man vorhandene Arbeitsplätze noch vernichtet, wenn die Touristen nicht kommen, wenn die Investitionen nicht kommen, dann bedeutet das, dass eine neue Welle der Revolution kommen wird. Und diesmal wird es wirklich gewalttätig werden, weil: die erste Welle der Revolution wurde von der Facebook- und Laptop-Generation durchgeführt, die zur Mittelschicht gehören, die eigentlich einen Job haben. Aber wenn die Hungrigen und Arbeitslosen auf die Straße gehen, dann kann es ziemlich ungemütlich werden.

Kassel: Was würde das im Bezug auf die Islamisten bedeuten? Ich habe schon Deutsche gehört, die gesagt haben, ich fahre da nicht hin, weil ich eigentlich diese politische Entwicklung nicht unterstützen möchte. Ist das ein logischer Gedanke?

Abdel-Samad: Ich kann es verstehen für den Einzelfall, wenn jemand sagt, ich will nicht in ein Land fahren, wo islamistische Gesetzordnungen herrschen. Aber bis jetzt gibt es das nicht, da muss man abwarten, welche Gesetze neu erlassen werden, wie die neue Verfassung ausschauen sollte, wie der neue Präsident von Ägypten, der Ende Mai gewählt wird, wie seine Haltung dazu ist. Ich glaube, solange die Sicherheit vorhanden ist, ist es immer gut, in Kontakt mit Menschen zu sein und dort hinzufahren, weil die Alternative wäre die wirkliche Isolation, und damit hilft man nicht den wenigen Menschen in Ägypten, die für eine säkulare Ordnung kämpfen, die für Freiheit kämpfen, sondern man lässt sie eigentlich buchstäblich im Stich und sagt, ich kümmere mich gar nicht um dieses Land.

Kassel: Sagt der Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad. Das Gespräch mit ihm haben wir kurz vor Beginn der Sendung aufgezeichnet.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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