"Ein Spiegel der tief greifenden Polarisierung"
Die Ägypter stimmen über eine neue Verfassung ab. Da aber die Islamisten im Prozess ausgeschlossen wurden, werde dies die Spaltung der ägyptischen Gesellschaft zementieren, glaubt Ronald Meinardus, Leiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kairo.
Jörg Degenhardt: Das Schiff der Nation in die Gefilde der Sicherheit steuern, darum geht es heute und morgen in Ägypten. Große Worte hat da Übergangspräsident Mansur gewählt, um seine Landsleute zur Stimmabgabe für eine neue Verfassung zu ermutigen. Mit der soll die alte, unter der Federführung der Islamisten entworfene Verfassung geändert werden. Die Muslimbrüder wiederum, die im vergangenen Jahr nach Massenprotesten von der Militärführung in Kairo entmachtet worden waren, haben ihrerseits zu einem Boykott der Volksabstimmung aufgerufen. 160.000 Soldaten und mehr als 200.000 Polizisten sind nun im Einsatz, um einen geregelten Ablauf zu gewährleisten und Unruhen zu unterbinden. Scharfschützen etwa sollen an geheimen Orten an jedem Wahllokal Posten beziehen – schon das macht deutlich, es steht einiges auf dem Spiel. Warum und für wen, darüber will ich reden mit Doktor Ronald Meinardus, er ist Leiter des Regionalbüros der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Kairo. Einen guten Morgen nach Kairo!
Ronald Meinardus: Schönen guten Morgen!
Degenhardt: Wie wichtig ist denn, Herr Meinardus, die neue Verfassung als Kompass, um im Bilde zu bleiben, für Ägyptens Kurs hin zu einer Demokratie?
"Der Umsturz war nicht gerade ein demokratisches Paradestück"
Meinardus: Das ist die große Frage. Es ist die erste Abstimmung nach dem Umsturz im vergangenen Sommer. Der Umsturz war von seiner Form her nicht gerade ein demokratisches Paradestück. Dort wurde der erste ägyptische demokratisch gewählte Präsident, sagen wir mal, sehr undemokratisch aus dem Amt entfernt. Es hat in den folgenden Wochen und Monaten einen sehr, sehr harten Schlag gegen die Islamisten gegeben. Und nun, dieses Referendum über eine Verfassung, die ausgehandelt wurde, verhandelt wurde unter Ausschluss der Islamisten, muss man sagen. Es hat dort unter 50 Abgeordneten nur zwei Islamisten gegeben, und sie spielen in diesem ganzen Prozess keine besondere Rolle. Es ist das große Problem in Ägypten, dass diese Verfahren nicht inklusiv sind. Die islamistische Verfassung wurde gebildet unter Ausschluss der säkularen liberalen Kräfte, und die neue Verfassung ist gebildet worden unter Ausschluss der islamistischen Kräfte, und das ist gewissermaßen eine Reflexion, ein Spiegel der tiefgreifenden Polarisierung hier in Ägypten. Und das verheißt nichts Gutes für die politische Zukunft, für die politische Stabilität in diesem Land, das volkreichste Land der arabischen Welt.
Degenhardt: Bürgerrechtler loben die neue Verfassung als Fortschritt zu mehr Frauenrechten, Religionsfreiheit und Demokratie, und ausgerechnet das Militär setzt sich jetzt dafür ein – ist das nicht eine ungewöhnliche Situation?
Meinardus: Man muss genau hingucken, welches diese Bürgerrechtler sind. Und auch die liberalen und die sozialdemokratischen und alle säkularen Parteien unterstützen diese Verfassung. Im gleichen Atemzug muss man sagen, dass eine Verhaftungswelle stattgefunden hat, dass kritische Stimmen mundtot gemacht worden sind; dass noch vor wenigen Tagen Menschen hier verhaftet worden sind, die Plakate geklebt haben, auf denen stand "Nein zur Verfassung". Das ist eine sehr durchwachsene Situation. Internationale Menschenrechtsorganisationen haben auf diese Missstände hingewiesen. Auch die internationalen Reaktionen, etwa von Catherine Ashton von der Europäischen Union und der US-amerikanische Verteidigungsminister haben auf diese Missstände hingewiesen und appelliert, dass der Prozess geöffnet werden soll. Im Moment ist davon aber nichts zu erkennen.
Degenhardt: Wer hätte denn am meisten von dieser neuen Verfassung? Das Militär, das dadurch seine Stellung im Lande zementieren könnte?
"Die großen Verlierer sind die Islamisten und die Muslimbrüder"
Meinardus: In allen politischen Konfliktsituationen gibt es Gewinner und Verlierer, und die Gewinner in der Verfassung sind auch die politischen Gewinner des Umsturzes des vergangenen Sommers. Es ist vor allen Dingen das Militär, dann aber auch der Polizeiapparat, ein sehr, sehr wichtiger Faktor in Ägypten, die Justiz, und interessanterweise auch die koptische Kirche, die christliche Minderheit hier in Ägypten, sie hatten die Frauen schon genannt. Aber vor allem die drei Erstgenannten, Militär, Justiz und Polizei sind die Hauptgewinner, und die großen Verlierer sind natürlich die Islamisten und die Muslimbrüder.
Degenhardt: Wie groß ist denn die Gefahr, dass nach diesem Referendum, und dann folgen ja die Parlamentswahlen, dass die alten Mubarak-Zeiten wiederauferstehen könnten in Ägypten?
Meinardus: Das ist die Gefahr, die die Kritiker hier an die Wand malen, und tatsächlich ist es schon bemerkenswert, wie die alten Exponenten des Regimes Mubarak hier wieder in der Öffentlichkeit erscheinen, etwa in den Kommentarspalten großer Zeitungen, in den Talkshows der privaten und staatlichen Fernsehstationen. Dort gibt es sehr viele Gesichter, die in den vergangenen Jahren nach der Revolution von 2011 nicht gesehen worden sind. Und es ist schon erstaunlich, dass hier eine Kehrtwende stattgefunden hat. Ein politisches Déjà-vu gewissermaßen, und das ist für viele echte Revolutionäre der ersten Stunden natürlich eine unerträgliche Provokation.
Degenhardt: Wohin geht Ägyptens Weg? Es klang schon an bei Ihnen, das wird wohl auch davon abhängen, wie es gelingt, die Muslimbrüder mit einzubinden in einer Art demokratischer Prozess, ich sag mal, ägyptischer Prägung. Sehen Sie dafür eine Chance?
Meinardus: Man muss ganz deutlich sagen, dass sehr viele Menschen die große Unruhe und die Turbulenzen der vergangene drei Jahre leid sind. Sie sind müde. Sie wollen endlich stabile Verhältnisse und Ruhe haben, und wichtigerweise hat das dann auch zum Preis, dass sie weggucken, wenn die Menschenrechte und andere demokratische Prinzipien nicht hochgehalten werden. Sehr viele Ägypter sind heute bereit, einem General, nämlich Abdel Fattah al-Sisi, das Vertrauen zu schenken, sind bereit, wegzugucken, wenn es um die Menschenrechte der Muslimbrüder geht, in der Hoffnung, dass Stabilität einkehrt, in der Hoffnung, dass das Wirtschaftswachstum wieder einsetzt; in der Hoffnung, dass ihre eigene persönliche, soziale und wirtschaftliche Situation sich verbessert. Und das sind natürlich nicht gute Voraussetzungen für eine demokratische Ordnung, eine demokratische Entwicklung, wie wir sie in Europa und in anderen Teilen der Welt kennen.
Vielleicht wird es nie eine Demokratie in Arabien geben
Degenhardt: Nun ist der Weg Ägyptens hin zu neuen Verhältnissen, ich will es mal ganz vorsichtig umschreiben, ja eher ein Zickzackkurs, oder eher einer nach dem Motto "ein Schritt vor und zwei zurück". Waren wir hier im Westen vielleicht zu euphorisch, was den Veränderungswillen der Ägypter in ihrer Mehrheit angeht?
Meinardus: Wir waren sicherlich zu ungeduldig in unserer Erwartung. Die Erwartung, dass nach dem 25. Januar 2011, dem Beginn der Revolution hier oder des Umsturzes gegen das Regime Mubarak, Ägypten auf dem kürzesten Weg zu einer liberaldemokratischen Musterordnung werden würde. Diese Erwartung ist enttäuscht worden, diese Erwartung ist tot. Es gibt ja nun zwei Interpretationsmuster: Die einen sagen, ja, wir brauchen den langen Atem, die französische Revolution habe auch Jahrzehnte gebraucht, ehe sie gefruchtet hat. Andere sagen nein, das ist hoffnungslos, es wird nie eine Demokratie in Arabien geben aus verschiedenen Gründen. Hier stehen sich zwei Schulen gegenüber, und am Ende wird nur die Zukunft zeigen, wer in dieser Auseinandersetzung, eine überwiegend intellektuelle Auseinandersetzung, Recht behalten wird.
Degenhardt: Doktor Ronald Meinardus, Leiter des Regionalbüros der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Kairo. Vielen Dank für das Gespräch und einen guten Tag nach Kairo!
Meinardus: Auf Wiederhören nach Berlin!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.