Frust junger Männer entlädt sich in sexueller Gewalt
Als innerägyptisches Problem hat die Journalistin Julia Gerlach das Phänomen der kollektiven sexuellen Belästigung auf dem Tahir-Platz beschrieben. Sie glaube nicht daran, dass sich das auf die Kölner Übergriffe in der Neujahrsnacht so einfach übertragen lasse.
"Das Thema sexuelle Belästigung ist in Ägypten ein ganz großes Thema", sagte die Journalistin Julia Gerlach, die in Kairo als Korrespondentin tätig war. "Es ist vor allem hochgekommen bei den großen Demonstrationen auf dem Tahir-Platz, wo wir alle völlig geschockt waren." Es sei immer der Platz der großen Protestkundgebungen und des friedlichen Miteinanders gewesen, aber ab 2012 habe es unglaublich viele Angriffe auf Frauen gegeben.
Organisierte Vorfälle
In der Menge von zehntausenden Demonstranten seien Frauen plötzlich von Männern umringt worden, die ihnen die Kleidung vom Leib gerissen hätten und sie teilweise sogar vergewaltigten. "Es gab in der Menge Vergewaltigungen von Frauen, was die anderen drum herum gar nicht mitbekommen haben", sagte Gerlach. Es habe sich dann schnell eine Bewegung dagegen gegründet, um die Frauen zu schützen. Damals sei vermutet worden, dass es sich um organisierte Vorfälle gehandelt habe, die heute nicht mehr vorkämen, vor allem weil es seit dem Regierungswechsel keine großen Demonstrationen mehr in Kairo gebe.
Sexuelle Übergriffe an Feiertagen
Gerlach erzählte auch von Vorkommnissen an Feiertagen in Ägypten. Dazu gebe es verschiedene Studien, die zeigten, dass Gruppen junger Männer aus Frust junge Frauen auf der Straße angriffen. Dies geschehe beispielsweise, um sich zu rächen, weil sie schlechter gestellt seien.
"Ich glaube, dass das dieses Phänomen in Ägypten ein sehr innerägyptisches Phänomen ist", sagte Gerlach und warnte davor, das auf die deutsche Lage so einfach zu übertragen. "Das ist der Frust dieser jungen Männer über ihre Gesellschaft, über ihre Situation in Ägypten."
Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Während die Forderungen nach einer Verschärfung des Sexualstrafrechts ja immer lauter werden nach den Vorfällen der Kölner Silvesternacht, wird auch immer vernehmlicher darüber diskutiert, wer sie mutmaßlich begangen hat, diese Straftaten, und aus welchem Grund. Der Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch, hält es für möglich, so sagte er gestern, dass sich die Täter über soziale Netzwerke verabredet hätten, und verweist ausdrücklich auf Erfahrungen aus einigen arabischen Ländern wie zum Beispiel Ägypten.
Dort ist die sexuelle Belästigung von Frauen gerade durch junge Männer gang und gäbe, vor allem während der Demonstrationen konnte man das sehen auf dem Tahir-Platz. Es gibt sogar einen Namen dafür, "taharrush gamea", übersetzt so viel wie kollektive Belästigung, und die Vorgänge auf dem Tahir-Platz hat Julia Gerlach mit eigenen Augen beobachtet. Sie war bis 2015 Korrespondentin in Kairo, unter anderem für die "Berliner Zeitung". Schönen guten Morgen hier in "Studio 9"!
Julia Gerlach: Guten Morgen!
Brink: Wie haben Sie die Gewalt gegen Frauen erlebt?
Organisierte Vergewaltigungen
Gerlach: Das Thema sexuelle Belästigung ist in Ägypten ein ganz großes Thema, und es ist vor allem hochgekommen bei den großen Demonstrationen auf dem Tahir-Platz, wo wir alle völlig geschockt waren, weil das war immer der Platz der großen Demonstrationen, der Revolution, des friedlichen Miteinanders, und plötzlich, so ab 2012, 2013, gab es unglaublich viele Angriffe auf Frauen. Und das ist so gelaufen, dass in der Menge, da waren Zehntausende von Leuten, die Frauen standen in der Menge, und plötzlich wurden sie umringt von Männern, die ihnen die Klamotten abgerissen haben, die zum Teil sogar sie vergewaltigt haben. Es gab in der Menge Vergewaltigungen von Frauen, was die anderen drum herum gar nicht mitbekommen haben, weil es einfach so ein Ring von Männern war, die diese Frauen dann umgeben haben.
Es hat sich dann relativ schnell eine Bewegung dagegen auch gebildet, also Frauen, die dann losgegangen sind, diese Frauen zu beschützen. Was aber sehr typisch ist für dieses Phänomen, war, dass alle, die das miterlebt haben, sowohl die Aktivistinnen, die geschützt haben, als auch die Frauen, die angegriffen wurden, gesagt haben, dass das organisiert war. Aber in dem Fall vermutete man eigentlich eher, dass es vom Innenministerium oder von Politikern ausgegangen sind, die ein Interesse daran hatten, dass diese Demonstrationen aufhören, dass die Frauen einfach Angst kriegen, zu demonstrieren.
Und ich muss selbst sagen, dass ich in der Zeit auch mir das stark überlegt habe, wie weit ich in diese Mengen reingehe, weil diese Vorstellung einfach total schrecklich war.
Brink: Und haben Sie das Gefühl gehabt, das war organisiert?
Gerlach: Man kann das nicht beweisen, aber das, was die Frauen, die das erlebt haben, und alle Beobachter so vermutet haben, war, dass das eben gezielt organisiert war, um diese Frauen vom Tahir-Platz wegzukriegen und alle vom Tahir-Platz wegzukriegen, und es hat tatsächlich, seit die Regierung von Mohammed Mursi gestürzt wurde 2013, dann auch solche Angriffe eigentlich nicht mehr gegeben, oder nur sehr wenige. Ein oder zwei gab es danach noch. Wobei es auch nicht mehr solche großen Demonstrationen gab.
Es gibt aber noch ein anderes Phänomen, das auch unter "taharrush gamea" in Ägypten so bezeichnet wird. Das sind Angriffe auf Frauen so an Feiertagen, also eher außerhalb von einem politischen Kontext, einfach so in Feierlaune, und wo es auch häufig Angriffe gibt auf Frauen.
Brink: Wie erklären Sie sich das? Liegt das in der Kultur begründet?
Frust über mangelnde Aufstiegschancen
Gerlach: Es gibt dazu viele Studien, es gibt dazu eine ganze Reihe von Aktivistinnen, die dazu arbeiten. Und gerade dieses Feiertagsphänomen, wo Frauen zum Beispiel beim Spazierengehen – das sind dann Gruppen von Mädchen, und die werden von Gruppen von Jungs angegriffen – da wird häufig gesagt, dass da so der Frust der jungen Männer eine Rolle spielt, dass da auch soziale Unterschiede eine Rolle spielen.
Die jungen Männer gehen da spazieren, die sehen, da sind Frauen, die sind vielleicht aus einer höheren sozialen Schicht auch, und um sich daran zu rächen, dass sie schlechter gestellt sind, oder auch einfach aus allgemeinem Frust, dass sie halt keine Chance haben in der Gesellschaft, lassen sie das dann an diesen Frauen aus.
Das Besondere in Ägypten ist, dass es auch dazu dann ganz schnell so eine Bewegung gegeben hat, die extrem erfolgreich ist, weil sie wirklich weite Teile der Gesellschaft erreicht haben. Die sagen, hört auf, unsere Frauen zu belästigen, das könnten auch eure Schwestern sein, und das muss jetzt beendet werden.
Brink: Letzte Frage: Liegt es nicht nahe, dann zu vermuten, ägyptische Männer, sagen wir, bestimmte ägyptische männliche Flüchtlinge oder Migranten verhalten sich dann in Deutschland, siehe Köln, ähnlich?
Gerlach: Man kann natürlich alles vermuten, aber ich glaube, dass dieses Phänomen in Ägypten ein sehr innerägyptisches Phänomen ist. Es ist einfach der Frust dieser jungen Männer über ihre Gesellschaft und über ihre Situation in Ägypten.
Ich glaube eigentlich nicht, dass sich das dann so übertragen lässt, sondern dass das dann eher so interne Probleme auch der deutschen Gesellschaft sind. Dass die vielleicht hier sehen, dass sie keine Chance haben, oder dass sie die Gelegenheit ergreifen. Aber ich glaube nicht, dass man sagen kann, das ist jetzt das arabische Phänomen oder das ägyptische Phänomen, und das macht man jenseits des Mittelmeers genau so, wie man das hier macht.
Brink: Aber es ist ja ein Verhalten, was sie dann doch in der Heimat gelernt haben oder zumindest erfahren haben.
Gerlach: Ja, aber dass das dann wirklich die gleichen Leute sind, die das da gemacht haben, die das jetzt hier wieder machen, das ist eigentlich sehr unwahrscheinlich.
Brink: Vielen Dank, Julia Gerlach. Sie arbeitet als Journalistin in Ägypten. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen.
Gerlach: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.