Asiem El Difraoui: Ein neues Ägypten. Reise durch ein Land im Umbruch
Edition Körberstiftung, Hamburg 2013
264 Seiten, 16,00 Euro, als ebook 11,99 Euro
Porträts aus einem Land im Umbruch
Angesichts der raschen politischen Entwicklung in Ägypten ist es schwierig, Aktuelles in Buchform zu fassen, ohne dass es gleich überholt wirkt. Auch andere arabische Länder sind schwer zu fassen. Zwei ägyptisch-deutsche Autoren haben es dennoch versucht.
Für seinen Reisebericht über das neue Ägypten besucht Asiem El Difraoui den Autowäscher Tarek, der in seiner Freizeit Gedichte schreibt. Mitten im Herzen von Kairo steigen die beiden in das Kellergeschoss eines Mietshauses:
"Rechts und links Dutzende von Türen, sofern man die aus Brettern zusammengenagelten Konstruktionen als solche bezeichnen kann. Dahinter hört man das Geschrei kleiner Kinder. Die zweite Tür von links ist Tareks Gruft.
Bevor er mich jedoch zu sich hineinbittet, möchte er mir noch den Nachbarraum zeigen. Als wir das wackelige Holzportal öffnen, kommt uns ein Mückenschwarm entgegen. Hier wohnt niemand mehr.
Der 13-Quadratmeter-Kellerraum steht dreißig Zentimeter hoch unter Wasser. Ob es Abwasser oder steigendes Grundwasser ist, weiß auch Tarek nicht, vermutlich beides." (El Difraoui, S. 90)
Auch wenn Porträts von reichen oder zumindest wohlhabenden Ägyptern bei Difraoui nicht fehlen, liegt das Augenmerk doch auf der Armut und sozialen Ungleichheit. In den 14 Kapiteln steht meist die Begegnung mit einer Person im Vordergrund, deren Äußerungen stellvertretend für viele stehen.
Meist elegant, manchmal etwas holprig eingewoben sind Fakten über die politischen Entwicklungen, über die ideologische Schnittmenge zwischen friedlichen Salafisten und militanten Dschihadisten oder über die wirtschaftliche Misere des Landes.
Asiem El Difraoui zeichnet ein differenziertes Bild vom "Land im Aufruhr"
Die Enttäuschung vieler Wähler nach dem Versagen von Ägyptens erstem frei gewählten Präsident Mohammed Mursi wird deutlich, zum Beispiel beim Besuch einer Bauernfamilie:
"Ahmed drückt zornig seine preiswerte ägyptische Zigarette der Marke Cleopatra auf dem Lehmboden neben dem Nylonteppich, auf dem wir sitzen, aus.
'Dieser Mursi hat das Land zerstört.' Wen er denn wählen würde, falls es wieder Wahlen gäbe? - 'Niemanden'.
Die westlichen Eliten von Mubarak hätten es vorher auch nicht geschafft, das Los der armen Landbewohner zu verbessern. Heute würden sich die Liberalen und die Islamisten nur streiten, aber keine vernünftige Initiative für die Landbevölkerung ergreifen.
'Wir haben allen eine Chance gegeben. Wer soll denn noch kommen?' fragt seine Frau zornig und betont, sie würde nie wieder wählen." (El Difraoui S.162)
Asiem El Difraoui gelingt es, ein differenziertes Bild von Ägypten als "Land im Aufruhr" zu zeichnen. Die wichtigsten Bevölkerungsgruppen kommen vor: Salafisten, Beduinen vom Sinai, Nubier, die beim Bau des Assuan-Staudamms umgesiedelt wurden, Kopten, die aus Furcht vor Repressalien kaum mit dem Autor sprechen wollen - alle begleitet von künstlerisch bearbeiteten Fotos, die das Gelesene noch lebendiger machen.
Die Ereignisse sind bis zum Sturz Mohammed Mursis und der blutigen Niederschlagung von Protesten der Muslimbrüder aufgenommen - zu Recht bezeichnet er sein Buch als Momentaufnahme, denn Ägypten kommt mit Protesten, Anschlägen, Prozessen und bevorstehenden Wahlen weiterhin nicht zur Ruhe. Viele der beschriebenen Einstellungen und Verhaltensweisen dürften aber auch die nächsten politischen Veränderungen überdauern - zum Beispiel bei dem Kairoer Polizisten Mohamed:
"Meine Frage nach Schlägen und Folter auf Polizeiwachen schockiert ihn nicht. Natürlich würde man 'mit Strom arbeiten'. Gemeint ist die Folter mit Stromschlägen, häufig an den Genitalien. Wie sonst solle man denn ermitteln, fragt er unverhohlen.
'Wie macht man das denn in Europa?' Die Antwort, dass dies natürlich streng verboten sei und Polizisten sich bei der Anwendung von Folter strafbar machen würden, lässt den jungen Mann staunen." (El Difraoui S. 71f)
Ein etwas sorgfältigeres Lektorat hätte dem Buch gut getan, so lesen sich manche Sätze etwas holprig und nimmt die indirekte Rede manchmal überhand. Bei den spannenden Inhalten fällt das aber kaum ins Gewicht.
Reportagen über Frauen aus sieben arabischen Ländern
Sprachlich überzeugender ist das Buch "Frauenpower auf Arabisch. Jenseits von Klischee und Kopftuchdebatte" von Karim El-Gawhary. Der langjährige Korrespondent verschiedener Tageszeitungen und des Österreichischen Fernsehens hat frühere Reportagen über Frauen aus sieben verschiedenen arabischen Ländern zusammengestellt - vor allem aus Ägypten, seinem Wohnort.
Er ist sich der Schwierigkeit des Themas bewusst: Allzu oft werden arabisch-muslimische Frauen im Westen als angebliche Opfer eines rückständigen Islam oder patriarchaler Gesellschaften inszeniert.
"Und vielleicht ist dieses Buch ein weiterer Versuch der Vereinnahmung. Die Unterdrückung der arabischen Frau ist ein gutes Geschäftsmodell. Aber in diesem Buch kommen die Frauen selbst zu Wort oder lassen ihr Leben für sich sprechen.
Die Geschichten zeigen, dass die Wirklichkeit nicht schwarz oder weiß ist und westliche Stereotypen die Realität nicht abbilden." (El-Gawhary S. 14)
Ein gutes Beispiel dafür, wie wenig sich die Wirklichkeit in schwarz und weiß teilen lässt, ist das Kapitel über die Toten im Fussballstadion von Port Said im Februar 2012. Mehr als 70 Menschen kamen damals um, die allermeisten Anhänger des Kairoer Fußballclubs al-Ahly, der an diesem Tag gegen den Club al-Masry aus Port Said angetreten war.
Viel deutet darauf hin, dass es sich nicht um normale Fußballkrawalle, sondern um einen geplanten Angriff auf die als polizei- und staatskritisch bekannten Ahly-Ultras handelte. Doch ein Gericht verurteilte ein Jahr später 21 Masry-Fans zu Tode - zwei hohe Polizeioffiziere, die möglicherweise von dem zugeschweißten Fluchtweg wussten, erhielten dagegen nur hohe Gefängnisstrafen.
Karim El-Gawhary portraitiert die Mutter eines getöteten Ahly-Fans und die eines zu Tode verurteilten Masry-Fans:
"Bodenlose Wut, tiefer Schmerz, Wunsch nach blutiger Vergeltung: Eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, und eine, deren Sohn in der Todeszelle sitzt, haben vieles gemeinsam.
'Ich sterbe jeden Tag bei dem Gedanken, dass mein Sohn niemals zurückkehren wird', sagt die eine. 'Ein Todesurteil gegen den Sohn ist ein Todesurteil gegen die Mutter', die andere. Eine trauert tief, die andere hofft verzweifelt." (El-Gawhary S. 114)
Viele der Frauen-Portraits von Gawhary sind sehr lebendig, kommen nah an die Lastwagenfahrerin oder die Gewerkschafterin heran - andere bleiben merkwürdig kurz und oberflächlich.
Ein wenig irritierend ist die Tatsache, dass das Buch nicht nur über sehr verschiedene arabische Länder berichtet, sondern auch eine enorme Zeitspanne umfasst - die älteste Reportage über die Familie einer palästinensischen Selbstmordattentäterin stammt von 2002. Zwar wird bei manchen Texten durch einen aktuellen Nachtrag noch erklärt, wie die Geschichte weiterging - an manchen Stellen fragt sich die Leserin dennoch, welche der Informationen bei der Drucklegung noch aktuell waren.
Den bleibenden Eindruck, den die starken Frauen hinterlassen, schmälert das nicht.
Karim El-Gawhary: Frauenpower auf Arabisch
Jenseits von Klischee und Kopftuchdebatte
Verlag Kremayr & Scheriau/Orac, Wien 2013
192 Seiten, 22,00 Euro