Selbst für Superhelden eine Herausforderung
Die Ägypter wählen bis Anfang Dezember ein neues Parlament. Präsident Al Sisi preist den Urnengang als weiteren Schritt zur Demokratie. Journalistin Elisabeth Lehmann lebt in Ägypten. Sie zeichnet ein anderes Bild - voller Repressionen.
Ein sonniger Tag in Kairo. Der Tahrir-Platz ist voller Menschen, es herrscht Stau, Autos hupen. Ein Tag wie immer eigentlich. Ich bin hier für einen Dreh mit zwei jungen Ägyptern verabredet. Sie wollen mir ihr Kunstprojekt zeigen. Einer, Atef Saed, zwängt sich in einen Spiderman-Anzug, springt von Dächern, auf Busse und scherzt mit den Menschen.
Der andere, Hossam Atef, begleitet ihn mit seiner Kamera und postet die Fotos später auf Facebook. Die beiden Jungs wollen zeigen, dass Kairo selbst für Superhelden eine Herausforderung ist.
Ich arbeite an diesem Tag wie immer mit meinem Freund und Kollegen Khalid El Kaoutit zusammen. Wir sind mit der Kamera unterwegs. Sind also sehr sichtbar. Aber es ist ein lustiger Dreh – ausnahmsweise. Selbst die Spitzel des Geheimdienstes, die überall in der Stadt postiert sind, lassen sich von Spidermans guter Laune anstecken. Zur Abwechslung mal nicht über Terror berichten, denke ich und atme auf.
Am Ende dieses Tages werden wir überfallen.
"Ihr seid ausländische Spione"
Die Jungs wollen uns mitnehmen in ihr Viertel. Bulaq Dakrur. Wir wollen ein schönes Schlussbild über den Dächern von Kairo drehen. Spiderman im Sonnenuntergang. Doch so weit kommen wir gar nicht. Dutzende Ägypter umzingeln plötzlich unser Taxi, einer zerbricht unsere Kamera, ein anderer zückt ein Messer und raubt uns aus. Die Menschen schreien uns an, dass wir von Al Jazeera seien, ausländische Spione.
Nach einer Stunde kommt uns ein besonnener Ägypter zu Hilfe und befreit uns. Außer ein paar Schnittwunden ist uns nichts passiert. Ich befürchte, unsere beiden Protagonisten haben mehr abbekommen.
Bulaq Dakrur – der Name des Viertels soll aus dem Französisch stamme und "Schöner See von Kairo" bedeuten. Aber kein See zu sehen - und schön ist es gleich gar nicht. Es ist ein Armenviertel, wie es Dutzende gibt in Kairo. Die beiden jungen Ägypter, also Spiderman und sein Kameramann, sind dort geboren und werden vermutlich auch dort sterben. Einmal Armenviertel, immer Armenviertel. Das ist die Devise in der ägyptischen Gesellschaft. Egal, wie klug du bist, egal, wie sehr du dich anstrengst. So zumindest meine Erfahrung.
Die Revolutionäre von 2011 werden in die Arme der Extremisten getrieben
Hossam Atef – der Kameramann - ist sogar schon mal in westlichen Medien aufgetaucht. Die "New York Times" nannte seinen Namen, als sie den Weg seines Freundes Islam Yaken nachgezeichnet hat. Der ist nach Syrien gegangen und hat sich der Terrormiliz IS angeschlossen. Hossam hat auch darüber nachgedacht. Er ist während der Revolution in Ägypten auf Demos gegangen. Bis er festgenommen wurde. Danach hat er aufgegeben:
"Ich hatte das Gefühl, dass sich nichts ändern wird, auch wenn ich sterbe. Es gibt so viele Dinge, die du nicht ändern kannst. Nicht, weil du zu schwach bist, sondern, weil du ein Niemand bist."
Sein Freund Islam ist in Syrien gestorben. Hossam ist in Bulaq Dakrur geblieben. Und an diesem Nachmittag, nach dem Überfall, denke ich zum ersten Mal: Ich hätte es verstanden, wenn er seinem Freund Islam gefolgt wäre.
Islam Yaken und Hossam Atef – zwei junge, motivierte Menschen, die dem Staat verloren gegangen sind. Weil der Staat sie mit Füßen tritt. Leider hat sie ihre Energie in die falsche Richtung getrieben – zu den Extremisten. Dabei waren sie es doch, die 2011 für ein besseres Ägypten auf die Straße gegangen sind.
Die Euphorie der ägyptischen Revolution – wenn ich mir davon Filme im Internet ansehe, wirkt es für mich sehr fremd. Von dieser Stimmung habe ich kaum etwas gespürt, als ich im April 2014 nach Kairo kam. Im Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, dass unsere Freunde in eine kollektive Depression gefallen sind. Und irgendwie wurde auch ich von dieser Stimmung angesteckt.
Erst war ich total naiv, als ich nach Kairo kam. Zwar war ich viel gereist in meinem Leben, habe in Russland gelebt, das sicher auch kein Musterstaat ist. Aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie wirkliche Ungerechtigkeit aussieht. Es hat keine zwei Monate gedauert, bis ich sie live kennenlernen durfte.
Und zwar durch ihn: Alaa Abdelfattah - einer der bekanntesten Revolutionäre Ägyptens. Seine gesamte Familie hat die Proteste 2011 auf dem Tahrir-Platz maßgeblich mit angefeuert. Wir wollten Alaa Abdelfattah gerne interviewen, aber er hat uns immer abblitzen lassen. Er wollte die kostbare Zeit in Freiheit gerne mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn verbringen.
"Ich bin ja nur auf Kaution frei, der Fall läuft weiter und sie können mich jederzeit wieder einsperren. Ich lebe also immer in der Angst, dass ich wieder ins Gefängnis gehe, in einer Woche, in einem Monat, in einem Jahr. Ich habe keine Ahnung, ob ich frei bin oder nicht."
15 Jahre Haft für Beteiligung an den Protesten auf dem Tahrir-Platz
Wir schließen einen Kompromiss und vereinbaren ein Interview – im Umfeld seiner Gerichtsverhandlung in Tora im Süden von Kairo. Gefängnis und Gericht sind in einem Gebäude. Als wir gegen neun Uhr ankommen, sagen uns die Beamten am Eingang, dass der Richter noch nicht da sei und wir uns gedulden sollen. Also, gehen wir mit Alaa Abdelfattah in ein Café gegenüber, trinken einen Tee und reden. Er unterbricht unsere Unterhaltung, weil er einen Anruf bekommt von seinem Vater, der damals auch sein Anwalt war.
Es gibt von dieser Szene keine Aufzeichnungen, weil alles zu schnell ging und wir nicht darauf gefasst waren, dass ein Prozess so laufen kann.
Alaa Abdelfattah springt auf, schreit ins Telefon "Was? 15 Jahre?" und noch bevor er aufgelegt hat, steht ein Polizist in Zivil neben ihm, nimmt ihm Ausweis und Handy ab und die riesigen schwarzen Eisentore schließen sich hinter ihm.
Mein Kollege Khalid und ich stehen in der Morgensonne und sind vollkommen überfordert mit der Situation. 15 Jahre Haft, in Abwesenheit des Angeklagten verhängt, weil er mit einem Schild auf der Straße gestanden haben soll? Ich schreie innerlich: Das muss doch jemand erfahren, was hier gerade passiert! Da muss doch jemand was dagegen machen!
Abends treffen wir uns mit ägyptischen Freunden. Der einzige Satz, der ihnen zu dieser Szene einfällt, ist: Tja, willkommen im Ägypten von Abdel Fattah Al Sisi.
"Es geht bergab mit Ägypten"
Seit Abdel Fattah Al Sisi Präsident ist, geht es bergab mit Ägypten. Na ja, vermutlich würden mir jetzt etwa vier Fünftel der Ägypter widersprechen und auch die europäischen Staatsmänner und -frauen haben sich ja ganz gut mit ihm arrangiert. Es gibt Wirtschafts-Projekte noch und nöcher. Aber ich finde: Es geht bergab mit Ägypten.
Ich kenne Ägypten nur unter Al Sisi. Wie es vorher war, weiß ich nur aus Erzählungen. Aber in den knapp zwei Jahren, in denen ich jetzt hier bin, ist es eigentlich immer nur schlechter geworden. In jeglicher Hinsicht. Die Jugend wird weggesperrt, die Medien werden mundtot gemacht, die Armen werden immer ärmer, die Anschläge größer und der Hass zwischen den Menschen immer offensichtlicher. Die Regierung betreibt eine bewusste Spaltung: Auf der einen Seite die guten, gläubigen Ägypter. Auf der anderen die Muslimbrüder. Die Terroristen.
Eine der ersten Handlungen der neuen Regierung war es, die Muslimbrüder zur Terrorgruppe zu erklären. Für uns Journalisten heißt das: Wir machen uns strafbar, wenn wir ihre Mitglieder interviewen und gar in einer ihrer Demos mitlaufen.
Eine schwarze Hand auf gelbem Grund - das Symbol der Muslimbrüder
Das war so eine Demo. Anfang des Jahres in Fayoum. Dort sind wir hingefahren, um eine Reportage über Rashwan Idris zu machen. Der junge Mann war am vierten Jahrestag der Revolution – am 25. Januar 2015 - erschossen worden. Sehr wahrscheinlich von der Polizei, weil er demonstriert hatte. Als wir ankommen, bildet sich eine Menschenmenge vor dem Haus der Eltern. Frauen, Kinder, junge Männer. Alle in gelben T-Shirts – darauf eine schwarze Hand mit vier Fingern. Das Symbol der Muslimbrüder. Viele von ihnen halten Plakate von Rashwan Idris in die Luft.
Ich beobachte diese Szene vom Balkon aus. Mein Freund und Kollege Khalid filmt unten in der Menge. Ich bin total nervös. Ich weiß, wie solche Demos enden können. Die Polizei hat die Hand schnell an der Waffe in diesen Tagen. Aber ist es nicht unsere Pflicht, darüber zu berichten? Alle Seiten zu hören? Andererseits: Ich hab' auch keinen Bock wie die Al-Jazeera-Reporter zu enden, die monatelang im Knast saßen, weil sie über die Muslimbrüder berichtet hatten.
An diesem Tag passiert nichts. Khalid wird rechtzeitig gewarnt und verschwindet, bevor die Polizei kommt.
Nach der Demo sitzen wir mit Rashwans Familie im Haus. Sie betonen, dass sie keine Anhänger der Muslimbrüder sind. Etwas anderes zu behaupten, wäre auch gefährlich – alle Muslimbrüder sind offiziell Terroristen. An der Wand lehnt ein riesiges Bild des jungen Mannes. Er lächelt charmant in die Kamera, darunter steht "Im Paradies, so Gott will". Rashwans Mutter ist voll verschleiert, sein Vater eine imposante Gestalt mit großen Händen und einem vollen, weißen Bart. Und doch bleibt ihm die Stimme weg, als er von seinem Sohn erzählt:
"Ich bete bei Gott, dass keiner sein Kind verliert. Was soll ich sagen, ich habe nur zwei Söhne – und einer ist weg. Ich habe meine Seele verloren. Ich habe alles verloren."
Ich sitze etwas im Hintergrund und beobachte. "So sehen also Terroristen aus", schwirrt mir die ganze Zeit durch den Kopf. Ich teile die Weltanschauung dieser Menschen nicht. Ich finde es als westlich sozialisierte Frau bedenklich, dass die Mutter unter einem schwarzen Schleier verschwindet und man nur ihre verweinten Augen sieht. Aber Terroristen? Im Moment sehe ich nur eine Familie, deren Leben für einen Moment stillsteht, weil ihr Sohn, Bruder, Neffe, Enkel tot ist. Wieder einer, der dem Staat verloren gegangen ist – und er zieht Dutzende mit sich, die den Staat bis ans Ende ihrer Tage hassen und bekämpfen werden, weil niemals jemand zur Verantwortung gezogen werden wird für die Schüsse auf Rashwan. Wie soll denn so ein gesundes, demokratisches Ägypten entstehen?
Der Staat zwingt junge Menschen, sich mit den großen Fragen auseinanderzusetzen
Mitte Juli vergangenen Jahres. Wir sind noch mal im Gerichtssaal in Tora im Süden Kairos. Der Revolutionär Alaa Abdelfattah und die anderen Angeklagten werden heute auf Kaution freigelassen. Es ist nur ein Etappensieg, am Ende werden sie doch alle für drei beziehungsweise fünf Jahre weggesperrt, weil sie ein Plakat hochgehalten haben. Aber damals war es ist ein kurzes Aufatmen.
Das muss gefeiert werden. Am Abend nach der Verhandlung in einem Club in Kairo Downtown. Für die Freigelassenen ein Glücksmoment - für mich völlig surreal. Am Morgen sitzen sie noch im Käfig, weil sie demonstriert haben und am Abend sind sie alle ganz normale junge Menschen wie Khalid und ich. Sie wollen tanzen, feiern, sich verlieben, einen Beruf und Hobbys haben. Sie wollen sich Gedanken machen, welche Ohrringe am besten zum Kleid passen. Oder ob sie sich dieses neue Smartphone kaufen sollen. Stattdessen zwingt sie der Staat, sich mit den ganz großen Fragen auseinanderzusetzen. Was ist Gerechtigkeit? Was bedeutet Freiheit?
Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Ich musste mir in meinem Leben bisher nie solche Gedanken machen. Und so kitschig es klingt: Ich bin unendlich dankbar dafür.
"Wer nicht im Knast war, ist kein richtiger Revolutionär"
Ich habe mir in den vergangenen zwei Jahren ganz oft versucht vorzustellen, wie es wäre, wenn mich plötzlich jemand für fünf Jahre wegsperren würde. Fünf kostbare Jahre. Wenn ich mir überlege, was ich in den vergangenen fünf Jahren alles gemacht habe, alles erreicht und gesehen habe, wie viele interessante Menschen ich kennengelernt habe. Aber für die Ägypter in meinem Alter scheint es manchmal fast wie eine Auszeichnung zu sein. Wer nicht im Knast war, ist gar kein richtiger Revolutionär. Wahrscheinlich ist das auch der einzige Weg, um nicht vollkommen zusammenzubrechen.
Tarek Mamdouh hat einen anderen Weg gewählt. Wir kennen ihn über sehr gute Freunde in Kairo. Die Freunde, die auf alle Ungerechtigkeiten nur ein zynisches, verbittertes "Willkommen im Ägypten von Abdel Fattah Al Sisi" übrig haben. Tareks Geschichte ist fast unglaublich. Er war am 25. Januar Stifte und Papier kaufen. Mehr nicht. Stifte und Papier – aber es war der 25. Januar – der Jahrestag der Revolution und auf dem Heimweg hält ihn die Polizei an, kontrolliert ihn und ehe er sich versieht, wird er festgenommen und ins Gefängnis gesteckt.
"Ich dachte dann, sie werden mich sofort wieder freilassen, wenn ich ihnen erkläre, wo ich war und wo genau ich hinwollte. Ich hatte ja meine Einkäufe dabei – ich dachte, sie werden mich einfach gehen lassen."
Willkür statt Gerechtigkeit
Das haben sie nicht gemacht. Stattdessen haben sie Tarek einen Mord angehängt. Er soll zusammen mit 90 anderen einen Demonstranten getötet haben. Außerdem ist er angeblich Mitglied einer Terrororganisation. Alles Taten, auf die in Ägypten die Todesstrafe steht. Und die geht den Richtern im Moment leicht über die Lippen, tausendfach werden solche Todesurteile mittlerweile verhängt.
Was macht das mit der Psyche eines jungen Menschen, wenn man so viel Ungerechtigkeit erfährt? Wenn man vollkommen ohnmächtig einem Staat gegenüber ist. Tarek ist nach einem Monat Haft freigekommen - vorerst.
"Anfangs fiel es mir schwer, Termine einzuhalten. Kollegen riefen mich an und wollten etwas von mir. Es hat sich alles verzögert – ich war überfordert. Ich habe lange gebraucht, bis ich angefangen habe, wieder normal zu funktionieren."
Wobei es ein anderes "normal" war als vorher. Denn als Tarek begriffen hat, was auf ihn zukommt, hatte er nur noch einen Gedanken: Raus aus diesem Land. Er hatte Glück, es gab noch keine Ausreisesperre gegen ihn wie gegen tausende seiner Landsleute.
Mittlerweile studiert er in Tschechien. In den nächsten Wochen soll ein Urteil gegen ihn fallen. Und wenn er nicht freigesprochen wird, kann er nie wieder zurück nach Hause, solange Ägypten von Al Sisi regiert wird. Und wieder ein kluger Kopf, der dem Land verloren geht.
Die Deutschen für einen Augenblick aus ihrer "Erdbeerwelt" reißen
Freunde in Kairo fragen mich ganz oft, was ich hier eigentlich mache. Ehrlich gesagt, frage ich mich das auch. Warum tue ich mir den ganzen Scheiß an? Klar, das Land ist wunderschön, wenn auch heruntergewirtschaftet. Die Menschen sind herzlich, ich habe viele Freunde gefunden, aber es ist nicht mein Land. Ich kann mit meiner Berichterstattung nicht mal besonders viel ausrichten. Ich hole niemanden aus dem Gefängnis, ich verhelfe niemandem zu einem besseren Leben, das einzige, was ich vielleicht schaffe, ist, dass ein paar Menschen in Deutschland für ein paar Minuten aus ihrer Erdbeerwelt gerissen werden und darüber nachdenken, wie viel Glück sie im Leben hatten. Einfach nur durch die Tatsache, im 20. Jahrhundert im Herzen Europas geboren zu sein und sich damit den deutschen Pass gesichert zu haben. Ich nenne ihn gerne meine "goldene Exit-Card". Ich kann einfach gehen, wenn es mir zu viel wird. Meine Freunde hier haben weniger Glück.