Ägyptische Aktivistin: Jeder Wahlgewinner wäre eine "Marionette"

Dina Abouelsoud im Gespräch mit Joachim Scholl |
Dina Abouelsoud hält die Situation in Ägypten nach der Präsidentenwahl für schwierig. Keiner der Kandidaten, die dort zur Wahl standen, sei wirklich vom ägyptischen Volk so gewollt, sagt Abouelsoud.
Joachim Scholl: Mohammed Mursi feiert sich schon als Wahlsieger, sein Kontrahent Ahmed Schafik bestreitet das. Erst in ein paar Tagen werden wir genau wissen, wer in Zukunft Präsident von Ägypten sein wird: ein Vertreter der religiösen Muslimbruderschaft oder ein alter Mubarak-Vertrauter, der durch ein umstrittenes Urteil des Verfassungsgerichts überhaupt erst zur Wahl antreten durfte? Die Revolutionäre der Straße indes fühlen sich verraten, sie sehen so oder so ein System am Horizont, das mit den Zielen der Revolution nichts mehr zu tun hat. Vor unserer Sendung habe ich mit der politischen Aktivistin Dina Abouelsoud aus Kairo telefoniert und sie gefragt, ob sie denn gestern wählen war?

Dina Abouelsoud: Ja, ich habe gewählt. Ich habe Schafik gewählt, weil die Situation in Ägypten zurzeit sehr schwierig ist. Es war eine sehr schwere Wahl, denn keiner der Kandidaten, die dort zur Wahl standen, sind wirklich vom ägyptischen Volk so gewollt oder von der Mehrheit des Volkes. Aber es ist nun mal so, dass der Gegenkandidat ein islamistischer Kandidat war, der Muslimbruderschaft, und da droht dann die Gefahr, dass passiert, dass das Scharia-Gesetz eingeführt wird. Und das war mir dann doch zu heftig, das wollte ich auf keinen Fall. Und darum habe ich Schafik gewählt. Das war eine wirklich schwere Entscheidung, aber ich dachte, das wäre das Beste für unser Land.

Scholl: Das heißt aber konkret, Frau Abouelsoud, Sie haben einen Mann des alten Systems, des Systems Mubarak, gewählt. Wie, glauben Sie denn, wird denn Ahmed Schafik agieren? Wäre er nicht eine Marionette des Militärrats?

Abouelsoud: Ich denke, wer auch immer gewählt wird, wäre eine Marionette für den Militärrat. Es geht ja auch hier um die Wahl eines Präsidenten, dessen Autorität noch vollkommen unbekannt ist. Es ist völlig unklar, was er dann darf und was er nicht darf. Also, jeder, der diese Wahl gewinnen würde, wäre eine Marionette. Und jemanden des alten Regimes zu wählen, bedeutet für mich auch, dass die Revolution weitergeht, dass sie fortgesetzt wird.

Schafik ist nur ein weiteres Gesicht dieses alten ägyptischen Regimes. So, wie wir vor eineinhalb Jahren gegen dieses Regime gekämpft haben, werden wir dann weiter kämpfen können. Wenn jetzt aber einer der Muslimbruderschaft gewählt werden würde, dann würde das heißen, dass die Revolution schon beendet sei, dass sie aber im islamischen Sinne beendet sei, dass es eine islamistische Revolution gewesen wäre.

Und dafür war ich nicht, dafür habe ich nicht gekämpft und bin nicht auf die Straße gegangen. Also, mit einem islamistischen Sieger wäre die Revolution sozusagen schon beendet. Diese Fortsetzung der Revolution kann also nur mit einem Vertreter des alten Regimes geschehen, weil ich auch der Meinung bin, dass niemand Schafik akzeptieren wird. Man wird ihn nicht durchkommen lassen, und er wird uns in diesem Sinne wieder zusammenbringen, die Muslime, die Islamisten, die Liberalen und die Kommunisten, all die Leute, die auf dem Tahrir-Platz waren.

Scholl: Eigentlich gab es die Vereinbarung, dass keine einstigen Gefolgsleute von Husni Mubarak ein politisches Amt im neuen Ägypten übernehmen würden. Ahmed Schafik war zunächst gar nicht zur Wahl zugelassen. Dann kam jenes Gerichtsurteil, zugleich wurde das neu gewählte Parlament aufgelöst. Beobachter haben gesagt, das sei die Konterrevolution. Sie sprechen davon, dass die Revolution jetzt gewissermaßen fortgeführt wird. Ist das nicht ein Widerspruch?

Abouelsoud: So sehe ich das. Alle sehen ja, dass das Regime noch vorhanden ist, dass es noch so da ist. Und dass das Gericht Schafik ermöglicht hat, Präsident zu werden, dass es das Parlament aufgelöst hat, wie man mit Mubaraks Sohn umgeht, wie man mit den Verantwortlichen der Untaten umgeht, dafür haben wir doch eigentlich alle Beweise, dass das passiert ist, wir haben das alles mitbekommen. Das ist völlig klar, es ist uns allen klar, dass das Gericht einseitig handelt, dass es total parteiisch ist, wir wissen das.

Und wir wissen auch, dass das, was passiert, falsch ist. Und darum sind wir wütend. Es wird gesagt, dass es fifty-fifty ausgegangen ist zwischen Schafik und Mursi, aber das berücksichtigt ja nicht, dass nicht nur dieser Wahlboykott auch stattgefunden hat, sondern dass auch viele Leute ungültig gewählt haben, zwei Kandidaten angekreuzt haben, damit die Stimmen nicht zählen und so weiter, um ein Zeichen zu setzen. Viele Leute sind nun mal unzufrieden mit Schafik, viele werden es sein. Aber wenn Mursi jetzt an die Wahl gekommen wäre, wären eben viele auch zufrieden gewesen. Und ich denke, so kann die Revolution weitergehen.

Scholl: Nach den Präsidentenwahlen in Ägypten - Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der politischen Aktivistin Dina Abouelsoud in Kairo. Es deutet sich ja auch schon an, Frau Abouelsoud, dass der Militärrat seine Macht nicht abgeben will. Es gibt Meldungen, wonach der zukünftige Präsident nicht mehr der Oberbefehlshaber über die Streitkräfte sein soll. Das sind ja alles keine guten Nachrichten. Wie haben Sie diese letzte Woche eigentlich erlebt, empfunden, fühlen Sie sich nicht sehr entmutigt?

Abouelsoud: Was hier passiert, sind ja auch Ankündigungen, und ich denke, es war wirklich erwartbar, dass die Macht nicht so einfach aufgegeben wird, in die Hände eines anderen gegeben wird. Wer immer kommen würde, würde machtlos sein, so habe ich mir das schon vorgestellt. Diese Leute betrachten sich wirklich als die Eigentümer des Landes und so war es von Anfang an: Das Militär sagte zwar, es würde die Revolution schützen, aber dieser Aussage habe ich nie vertraut. Was sie in den letzten eineinhalb Jahren gemacht und gesagt haben, war wirklich so, dass diese Handlungen erwartbar waren. Das Gesetz, das jetzt besagt, dass jeder Militär Leute verhaften kann, dass jeder Soldat willkürlich auf der Straße jemanden festnehmen kann, das gab es im Prinzip schon vorher, ohne dass es ausgesprochen war. Man hat sich dieses Recht genommen, ohne es extra anzukündigen. So sitzen auch schon 15.000 bis 16.000 Menschen – die Zahlen sind nicht ganz klar – in Militärgefängnissen. Das Militär gibt sich selbst das Recht, einfach alles zu tun.

Scholl: Sie betreiben in Kairo ein Hostel, das auch zu einem Treffpunkt politischer Aktivisten geworden ist. Was würde es denn für Sie persönlich bedeuten, wenn ein Präsident der Muslimbrüder regieren würde?

Abouelsoud: Für mich persönlich, die ich ja im Tourismus arbeite, würde mein Geschäft wahrscheinlich zerstört werden. Ihre Agenda richtet sich ja gegen die Touristen, dagegen, dass Ausländer ins Land kommen und hier alles sehen. Es würde keine Genehmigungen mehr geben, es wäre alles komplett haram, es wäre verboten. Das würde natürlich nicht nur mich betreffen, das würde ganz Ägypten betreffen, was ja ein touristisches Land ist, was vom Tourismus auch lebt. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite würde es auch mich als Frau besonders betreffen und mein Geschäft wäre so auch nicht mehr möglich, wenn das Scharia-Gesetz eingeführt werden würde. Dann könnte ich nicht mehr selbst geschäftsfähig sein, dann würde ich es nicht selbst ausüben können, sondern müsste mir zum Beispiel einen Ehemann oder einen anderen Mann heranholen, der dann für mich die Geschäfte führt und die Verantwortung übernimmt. Als Frau könnte ich also nicht mehr reisen, all diese Dinge nicht mehr machen. Mein Leben, so wie ich es jetzt lebe, wäre also unmöglich.

Scholl: Die Muslimbrüder agitieren auch sehr erfolgreich auf dem Land, mit sozialen Projekten, verteilen dort beispielsweise Medikamente, machen so Propaganda und werden so gewählt. Sie, Frau Abouelsoud, wollen hier etwas Konkretes entgegensetzen. Was ist das für ein Projekt?

Abouelsoud: Ja. Die Armut in Ägypten ist ja auch sehr groß. Noch mehr auf dem Land als in der Stadt, aber auch in der Stadt ist es durchaus ein Problem. Und das wird für die Wahlen ausgenutzt, dass die Leute oft diejenigen wählen, die ihnen Almosen geben, die ihnen Essen zur Verfügung stellen, Medizin und Ähnliches, ihr Alltagsleben erleichtern. Darum treffen sie einfach häufig auch nicht die richtige Wahl.

Nach Mubaraks Rücktritt haben wir dann die revolutionäre Frauenkoalition gebildet, das ist eine Vereinigung von Freiwilligen, die wir zusammenbringen, die versuchen, in ärmeren Gegenden und hoffentlich auch bald in ganz Ägypten dadurch zu helfen, dass wir medizinische Hilfe leisten, dass wir Bewusstsein schaffen wollen, dass wir Bildung bringen, dass wir den Leuten einfach das geben, was sie gerade brauchen. Wir haben da in der Nähe des Tahrir-Platzes, in Abdin, angefangen und wir wollen das auch ausweiten.

Es geht uns auch vor allem darum, dass die Leute nicht so leicht ihre Stimme kaufen lassen, dass sie nicht denjenigen immer wieder wählen, der ihnen etwas zu essen gegeben hat, weil sie der Meinung sind, das sei ja ein guter Mann, den muss ich jetzt wieder wählen, weil er Öl oder Reis gegeben hat. Und vor allem geht es auch darum, dass man nicht die Leute zu schnell dadurch trennt, dass man das Ganze religiös auslegt, dass man den Kindern sagt, du kriegst dein Essen in der Moschee und du in der Kirche, und sieh mal, die anderen gehen in die Kirche oder die anderen gehen in die Moschee.

Diese Trennung aufzuheben, versuchen wir auch mit unserer Arbeit, dass wir unabhängig von Kirchen und diesen Einrichtungen versuchen, den Leuten zu helfen, sodass sie darauf nicht mehr angewiesen sind. Mit unserem Projekt versuchen wir also, diese Haltung zu ändern. Eigentlich ist natürlich die Regierung zuständig dafür, dass die Leute genügend medizinische Betreuung, Nahrung und Bildung erhalten, aber ... Nun ja. – Zu den Muslimbrüdern ganz kurz noch eine Sache: Das ist etwas, was die Frauen in Ägypten jetzt wirklich sehr hart betrifft, es wirft uns zurück. In einer Zeit, in der die Welt sich weiterentwickelt, sind wir plötzlich noch einmal auf dem Weg zurück. Und das ist sehr gefährlich und sehr beängstigend für die Lage in Ägypten.

Scholl: Welchen Weg geht Ägypten nach den Präsidentenwahlen – das war Dina Abouelsoud, die politische Aktivistin aus Kairo. Herzlichen Dank für das Gespräch!


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