Isoliert, aber nicht alleingelassen
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Besuchsverbot in Pflegeheimen, Enkel sollen Großeltern nicht treffen, Ältere zu Hause bleiben. Das Coronavirus sorgt für große Unsicherheit. Wie können wir uns um ältere Menschen in Familie oder Nachbarschaft kümmern? Ein Pflegeexperte gibt Auskunft.
Dreiviertel der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Dies bringt in Zeiten von Corona einige Schwierigkeiten mit sich, erklärt Frank Schumann. Er ist Leiter der Fachstelle für pflegende Angehörige im Diakonischen Werk Berlin. "Die Diskussion darüber, wie man sie unterstützen kann, findet im Moment noch nicht so richtig in der Politik statt", sagt er.
"Das gute alte Telefon erlebt eine Renaissance"
Fragen, die ihm in diesem Zusammenhang gestellt werden, lauten zum Beispiel: "Wie sichere ich mein persönliches Pflegesystem zu Hause? Darf ich meinen Freund, meine Nachbarin weiterhin zu meiner Mutter schicken, damit sie mich dort in der Pflege entlastet?"
Die räumliche Distanz von Angehörigen und Pflegebedürftigen schafft nun – in Zeiten von Corona – vermehrt Probleme. Hier werde neben den entsprechenden Institutionen und Hilfsdiensten auch die Nachbarschaft immer wichtiger.
"Es schlägt die große Stunde anderer Verbindungsmöglichkeiten zwischen Menschen", sagt Frank Schumann. "Wir müssen hier zusehen, dass wir Infrastruktur schaffen: Uns über das Internet miteinander zu verbinden – und das gute alte Telefon erlebt eine Renaissance." Seine eigenen Eltern sieht er zurzeit auch nur noch auf dem iPad.
Vernetzung von pflegenden Angehörigen
Einige Jahre lang pflegte Schumann selber Angehörige, sammelte dabei Erfahrungen, die bei seiner Arbeit helfen: "Das ist wichtig, das ist eine Sache, die den Blick auf das gesamte Pflegesystem entscheidend verändert, wenn man selber pflegender Angehöriger war."
Er rät entschieden dazu, dass Angehörige sich gerade in der Krisenzeit untereinander vernetzen. Dafür hat sein Verein "wir-pflegen" zusammen mit dem Bundesministerium für Gesundheit die App "in-Kontakt" entwickelt. Mit ihrer Hilfe können sich Betroffene bundesweit austauschen.
In vielen Fällen sorgt der nun erzwungene Abstand allerdings für erhebliche Probleme - etwa wenn Menschen ihre in Pflegeheimen untergebrachten Angehörigen wegen des Besuchsverbots nicht mehr mit versorgen dürfen, diese Zusatzversorgung bislang aber eine wichtige Stütze war.
"Das sind grenzwertige Situationen, die immer wieder entstehen. Es ist eine Ausnahmesituation, auch für die stationären Pflegeeinrichtungen." Schumann empfiehlt in solchen Fällen zu versuchen, auf höchster Ebene mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen.
Ansprüche auf Leistungen entbürokratisieren
Gefragt sind in der aktuellen Situation pragmatische Lösungswege, so Schumann. Wenn zum Beispiel Mitarbeiter geschlossener Tagespflegeeinrichtungen nun Hausbesuche machten, sollte dies auch von den Krankenkassen übernommen werden.
"Wir brauchen kreative Lösungen", fordert Frank Schumann. "Dazu gehört eindeutig auch eine Entbürokratisierung der Leistungsansprüche der Pflegebedürftigen. Dazu gehört nicht nur eine Flexibilisierung der Tagesbetreuung, sondern auch die Freigabe anderer finanzieller Ansprüche wie beispielsweise Verhinderungspflege oder auch der Entlastungsbetrag. Das sind normalerweise zweckgebundene Geldbeträge, für die man Anträge stellen muss. Die müssen die Menschen jetzt zur Verfügung bekommen, damit sie sich ihr eigenes Hilfesystem zu Hause aufbauen können."
Wichtig sei es, bei allen Pflegemaßnahmen und Entscheidungen die älteren Menschen mit einzubeziehen. "Da sind wir als Gesellschaft lernend", meint Schumann. Man sollte nicht nur über die Pflegebedürftigen und die pflegenden Angehörigen reden, sondern vor allem mit ihnen.
Befürchtungen älterer Menschen im Hinblick auf mangelnde Schutzmaßnahmen, wie fehlenden Mundschutz, würden leider nicht immer ernst genommen. "Was die Hygiene betrifft, sind die Gesundheitsämter zuständig", so Schumann. Da bliebe zu hoffen, dass die jeweiligen Mitarbeiter entsprechend reagieren.
"Wir werden die Krise nur gemeinsam lösen können"
Eine positive Beobachtung, die Schumann derzeit macht, ist die große Bereitschaft sich bürgerschaftlich zu engagieren.
"Es gibt ganz viele Menschen, die das jetzt tun", erzählt er. "Wir müssen zusehen, dass wir nicht nur auf die Infektionswege gucken. Wir dürfen die psychosoziale Begleitung und Betreuung dieser Menschen – und auch der Angehörigen – nicht aus dem Blick verlieren."
Generell ist es Frank Schumann ein Anliegen, Mut zu machen: "Ich bin überzeugt, wir werden es schaffen. Wir werden die Krise aber nur gemeinsam lösen können."
(mah)