Den Föderalismus nicht einfach aushöhlen
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Was, wenn die Inzidenzwerte nicht sinken? Der Bund will deshalb in kürzester Zeit einheitliche Coronamaßnahmen gesetzlich möglich machen. Dabei könnte jedoch die gebotene Gründlichkeit auf der Strecke bleiben, befürchtet der Jurist Michael Brenner.
Im Saarland dürfen Bürgerinnen und Bürger wieder ins Theater, Kino und Fitnessstudio gehen. In Bayern darf man schon wieder Schuhe shoppen; in Berlin bräuchte man dafür ein negatives Coronatestergebnis. Große Verwirrung und auch Frust herrschen.
Zur Vereinheitlichung der Maßnahmen gegen die Coronapandemie soll das Infektionsschutzgesetz in möglichst kurzer Zeit geändert werden. Das soll dem Bund mehr Möglichkeiten geben, den Ländern notfalls Maßnahmen vorzugeben, die diese umsetzen müssen.
Unheilvolle Erinnerungen an Gleichschaltung
Die angedachten Änderungen sind jedoch ein Eingriff in die deutsche Verfassungsarchitektur. Die wiederum war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reaktion auf den nationalsozialistischen Einheitsstaat.
Ist so eine Maßnahme das Gebot der Stunde, weil sich die aktuelle Machtbalance als ungenügend erwiesen hat? Oder droht hier eine Gefahr für das Grundgesetz, weil die Zentralisierungstendenzen schon in den vergangenen Jahrzehnten stark waren? Muss man nun mit Kritik à la "Machtergreifung" und "Selbstentmachtung der Länder" rechnen?
Der Verfassungsrechtler Michael Brenner, Professor an der Universität Jena, hält das Vorgehen des Bundes für "recht sportlich", wenn tatsächlich innerhalb von ein oder zwei Wochen die Neufassung des Gesetzes auf den Weg gebracht werden sollte.
Es braucht drei Lesungen im Bundestag
"Normalerweise dauert so etwas länger: einige Wochen oder sogar einige Monate. Es müssen drei Lesungen im Bundestag durchgeführt werden, es muss der Bundesrat beteiligt werden." Brenner räumt allerdings ein, dass es möglich sei. Es habe in der Vergangenheit schon ähnliche Fälle gegeben – etwa bei der Entscheidung über die Griechenland-Hilfen während der Finanzkrise, die innerhalb von vier Tagen erfolgte.
Im aktuellen Fall gebe es zwar keine rechtlichen Fallstricke, "aber man wird natürlich vom Gesetzgeber schon erwarten können, dass er auch dieses Gesetz, das für die Gemeinschaft wichtig ist, gründlich vorbereitet und gründlich überprüft", betont Brenner. "Wenn man das jetzt in kurzer Zeit durchpeitschen würde, dann würde vielleicht die Gründlichkeit ein bisschen auf der Strecke bleiben."
Es werde dann vermutlich nicht möglich sein, eine Sachverständigenanhörung durchzuführen, "was bei wichtigen Gesetzen eigentlich den Regelfall darstellt".
Aus gutem Grund föderalistisch
Gelinge es nicht, die Inzidenzwerte mit den aktuellen Maßnahmen dauerhaft zu senken, könne tatsächlich ein einheitliches Handeln des Bundes gefordert sein. Jedoch habe Deutschland aus guten Gründen eine föderalistische Staatsstruktur mit starken Ländern. "Die sollte man nicht aus kurzfristigen Erwägungen heraus aushöhlen."
(mkn)