Provokation Kaliningrad
Die baltischen Staaten fürchten sich vor Russlands Expansionslust. Ebenso wie Polen und die Ukraine. Die russische Exklave Kaliningrad spielt dabei eine besondere Rolle. Lokale und nationale Interessen stehen sich gegenüber.
Jonas Ohman ist im Stress. Der Schwede lebt seit zehn Jahren in Litauen, er ist Dokumentarfilmer, 50 Jahre alt, hat eine Familie zu versorgen, und außerdem hat er ein zeitraubendes Ehrenamt. Er organisiert Hilfe für die Ukraine: Medikamente und Kleidung für die Zivilbevölkerung im Donbass, Fernzielrohre, Helme, Nachtgläser für die Kämpfer.
"Putin kommt. Und der wird nicht in Krim und Ukraine bleiben. Wenn Putin dort erfolgreich wird, kommt er her. Ganz einfach. Putin braucht Kriege. Putin ist Krieg."
"Blue Yellow" heißt die Organisation, in Anspielung auf die Farben der ukrainischen Fahne. Für die Balten sei es lebenswichtig, die russische Aggression in der Ukraine aufzuhalten, glaubt Ohman. Seit 2014 hat er Spenden im Wert von 500.000 Euro in die Ostukraine geschickt. Litauens Präsidentin hat ihn für seine "Verdienste um Litauen" ausgezeichnet.
Eine Frage von Leben und Tod
"Für uns, ich bin Schwede, aber ich wohne hier, für die Leute, die hier wohnen, da ist natürlich, was passiert jetzt in der Ukraine und Russland, das ist natürlich gefährlich. Richtig gefährlich. Hier verstehen Leute, was Okkupation bedeutet, was Russland bedeutet, was Russland machen kann. Für uns das ist eine Frage von Leben und Tod, ganz einfach."
Im Baltikum ist die Angst vor Russland groß. Die drei Länder bilden eine Art äußeren Zipfel der EU und der NATO. Litauen, das westlichste der Länder, verbindet nur ein schmaler Streifen von nicht mal hundert Kilometern mit dem NATO- und EU-Partner Polen; zugleich hat Litauen eine rund 250 km lange Grenze mit der russischen Exklave Kaliningrad und eine noch einmal doppelt so lange Grenze mit dem eng mit Russland verbündeten Weißrussland.
Das Verteidigungsministerium in Vilnius ist ein weiß-gelber Säulenbau, wie er in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion zu finden ist. Verteidigungsminister Raimundas Karoblis fasst die Bedrohung in Zahlen.
10.000 Soldaten an Grenzen zu Estland und Lettland
"Russland hat mehr als 100.000 Soldaten an der Grenze zu Estland und Lettland stationiert. Russland hat seine Erste Garde-Panzer-Armee reaktiviert, sie ist stark und gen Westen ausgerichtet. Es geht um uns. Sie sind in der Lage, innerhalb von 24 bis 48 Stunden einen Angriff auf uns zu beginnen. Sie nutzen neue Technologien wie Drohnen. Und die Geschwindigkeit, mit der sie Soldaten verlegen können, ist auch sehr, sehr hoch."
NATO-Militärs haben ausgerechnet, dass russische Truppen im Falle eines Krieges innerhalb von 60 Stunden bis nach Tallinn und Riga vordringen könnten – so schwach seien baltische Verteidigungskräfte. Das ergab ein Planspiel vor zwei Jahren.
Um Russland abzuschrecken, hat die NATO mittlerweile multinationale Kampftruppen in der Region positioniert: in den drei baltischen Ländern und in Polen jeweils rund tausend Soldaten. In Litauen wird die Gruppe von der Bundeswehr geleitet.
Umfragen zufolge begrüßen 80 Prozent der Litauer die Präsenz der deutschen Soldaten. Sie fühlten sich nun sicherer, meint Karoblis. Doch er warnt: Russland bedrohe nicht nur das Baltikum. Er verweist auf die Iskander-Raketen, die Russland in seiner Exklave Kaliningrad stationiert hat: Kurzstreckenraketen, die mit Atomsprengköpfen ausgestattet werden können.
"Sie können auch Deutschland und den Süden von Schweden erreichen."
Der Bahnhof von Vilnius. Zwei Mal täglich hält hier ein Fernzug von Moskau nach Kaliningrad. Reisende mit russischem Pass können Litauen ohne Visa passieren. Eine Transitregelung macht es möglich.
In Vilnius steigen aber auch einige Litauer zu. Alla fährt seit 15 Jahren regelmäßig dienstlich nach Kaliningrad. Sie ist Juristin, um die fünfzig und arbeitet im litauischen Außenministerium.
"Früher haben wir immer zuerst auf die Gesundheit angestoßen. Jetzt trinke ich immer zuerst auf den Frieden."
Staatstragend: Russisches Fernsehen in Kaliningrad
Ortswechsel. Kaliningrad. Das Regionalbüro des russischen Staatsfernsehens, WGTRK. Ein schlichter flacher Betonbau. Auf dem Dach weht die russische Fahne. Auf den Gängen Linoleum.
Nikolaj Dolgatschow, der Leiter des Regionalbüros, sitzt in seinem Büro und schaut fern. Live in Moskau hält sein oberster Dienstherr, Präsident Wladimir Putin, eine Rede. Er spricht von Frieden und will ihn mit Waffen sichern. Und er droht. Putin lässt ein Video abspielen.
Dolgatschow horcht auf. Eine schwarz-weiß karierte Rakete startet im Video senkrecht in den Himmel. Dann ein Schnitt zu einer Animation. Ein roter Punkt fliegt um den Erdball, geht auf der anderen Seite des Globus nieder.
Die Reichweite des neuen Systems sei praktisch unbegrenzt. "Sarmat" sei eine sehr bedrohliche Waffe, kein auch noch so gutes Raketenabwehrsystem könne sie aufhalten.
Putin referiert weiter. Ein neues Video, ein neuer Raketentyp, dieses Mal atomar betrieben. Niemand auf der Welt besitze etwas Vergleichbares. Vielleicht käme das irgendwann, aber bis dahin hätten unsere Leute bestimmt etwas anderes erfunden.
"Er gibt den Russen die Sicherheit, dass es bei uns keinen Krieg geben wird. Und wenn es ihn doch geben sollte, werden wir ihn gewinnen. Deshalb stellt sich für Russen die Frage nach einem Krieg in Kaliningrad einfach nicht."
"Nichts, wovor wir Angst haben"
Nikolaj Dolgatschow lächelt. Er ist 37 Jahre alt, wurde in Kaliningrad geboren. Sein Vater kam 1945 mit der Roten Armee in die Stadt. Hinter dem Schreibtisch hängt ein Putin-Porträt, montiert in eine rote Fahne. Dazu der Spruch "für ausgezeichnete Kampfbereitschaft".
"Nehmen Sie diesen Vergleich: Es ist das Gefühl eines selbstsicheren aufgepumpten Muskelprotzes, der mit einem Gewehr in der Hand auf die Straße geht und dort nur Leute sieht, die kleiner sind und bestenfalls Bretter in der Hand haben. Es gibt nichts, wovor wir Angst haben müssten."
Warum dann die Entrüstung in Moskau über die NATO-Truppen in Polen und in Litauen?
"Es geht um politischen Respekt uns gegenüber. Die Truppen sind ein Signal an Russland. Die Amerikaner rücken ihr Raketenabwehrsystem und ihr Militär näher an uns heran, und auch Deutschland ist mit seinen Soldaten dichter bei uns als je zuvor."
Die Menschen im Kaliningrader Gebiet sind trotz all der Drohgebärden vergleichsweise entspannt.
Kleiner Grenzverkehr lebt vom Tourismus
Vormittags in der Kleinstadt Gussew, dem ehemaligen Gumbinnen, etwa 120 km von Kaliningrad und 40 km von der Grenze nach Litauen entfernt. Eine Wohnung in einem Plattenbau. Hier trifft sich der Altenkreis der evangelischen Kirchengemeinde. Drei Frauen sprechen über Handarbeit: Sie nähen Stofftaschen und verkaufen sie als Souvenirs an deutsche Touristen. In den Sommermonaten kommen vor allem alte Leute, Vertriebene aus Ostpreußen, ein bis zwei Busse seien es pro Woche, erzählt Tamara Solovjova.
"Wir haben einen Plan erstellt, wer die Ware liefert, wer die Taschen näht, alles ist fertig. Wir haben ausreichend Stoff. Wir haben Farben gekauft. Jetzt müssen nur noch mehr Touristen kommen."
Die Frauen reden über Krankheiten, über das Wetter, über die Zukunft der Gemeinde. Über Raketen, die NATO, über eine militärische Bedrohung reden sie nicht.
"Ich habe nicht gehört, dass das jemand diskutiert hätte."
"Dabei ist die Grenze gleich nebenan."
"Ja, im Fernsehen reden sie darüber. Hier aber sprechen wir überhaupt nicht darüber. Alle schweigen dazu. Und wir fahren ja auch nach Polen, nach Deutschland. Ich persönlich, mit meiner Familie. Wir haben Visa beantragt. Ich war auch einmal in Litauen, vor nicht allzu langer Zeit. Die Leute sind sehr freundlich zu uns. Was sie im Fernsehen zeigen, die Politik, das ist etwas ganz anderes."
Aber auch die Regionalregierung in Kaliningrad tritt, verglichen mit der aggressiven Kreml-Rhetorik, gemäßigt auf. Die Politiker hier bemühen sich, ihre Region offenzuhalten, werben um ausländische Investoren und Touristen.
Grenzübergreifende Zusammenarbeit besteht noch
Alla Ivanova ist Ministerin der Kaliningrader Regionalregierung für internationale Zusammenarbeit, und das heißt vor allem für Zusammenarbeit mit den Nachbarregionen. Die EU und Russland fördern grenzübergreifende Projekte in Polen, Kaliningrad und Litauen. Es geht um Denkmalpflege, um Kläranlagen, um Artenschutz zum Beispiel. Das gemeinsame europäisch-russische Programm existiert seit mehreren Jahren. Ivanova betreut die russischen Antragsteller.
"Die grenzübergreifende Zusammenarbeit wurde – toitoitoi – noch nicht angetastet. Auch wenn wir einander viele Vorwürfe machen, so bleiben die Gelder dafür erhalten. Vielleicht, weil diese Programme immer ziemlich pragmatisch waren. Es geht darum, gemeinsame Probleme zu lösen. Wenn Sie das Wasser im Kaliningrader Teil des Kurischen Haffs klären, wird es auch im litauischen Teil und in der Ostsee sauberer."
Ivanova hat ihren Posten seit acht Jahren. In der ersten Zeit wurde die Zusammenarbeit der Nachbarländer immer enger. 2012 trat ein kleiner Grenzverkehr zwischen dem Kaliningrader Gebiet und den polnischen Masuren in Kraft. 2016 aber kündigte Polen die Regelung, begründete das Aussetzen des kleinen Grenzverkehrs damals mit Sicherheitsbedenken vor dem bevorstehenden Papst-Besuch und dem NATO-Gipfel. Alla Ivanova vermutet andere Gründe.
"Die Leute, die nach Polen fuhren, die Familien in den Autos, mit Hunden, der Oma, dem Opa – die haben das Bild gestört, dass Russland das absolute Böse ist und bekämpft werden muss. Naja, vielleicht ist das auch eine Verschwörungstheorie und stimmt nicht."
Die Kaliningrader Regierung möchte, dass der visafreie Grenzverkehr wieder aufgenommen wird. Ivanova sieht nichts, was Russland tun könnte, um das Vertrauen der polnischen Regierung wiederzugewinnen. Die Krim der Ukraine zurückgeben? Sich aus dem Donbass zurückziehen? Niemand habe das Recht, so etwas zu fordern, meint sie und bläst Luft durch die Nase.
"Das wäre eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands."
Polen begrüßen die Anwesenheit der NATO
Auf der Alltagsebene läuft der Austausch mit Polen indes auch so weiter, trotz der Visapflicht.
Bartoszyce in Polen. 20 Kilometer hinter der russischen Grenze, rund 25.000 Einwohner. Im Restaurant "Zum Heiligen Nikolaus" serviert Marzena Wołoch Hausmannskost: Pieroggi, Riesen-Teigtaschen, gefüllt mit Schinken, Pilzen und Käse.
In Bartoszyce und den Nachbargemeinden haben die Bewohner sogar Unterschriften gesammelt, in der Hoffnung, dass der kleine Grenzverkehr wieder aufgenommen wird und es für die Russen wieder einfacher wird, nach Polen zu reisen. Die Besucher aus Kaliningrad sind ein Wirtschaftsfaktor. Sie kaufen im Discounter in Bartoszyce ein, besuchen den Aquapark bei Danzig, verbringen Wochenenden am Meer.
Zugleich stehen rund hundert Kilometer entfernt auf polnischem Boden die multinationalen Kampftruppen der NATO unter der Führung der USA. Die Polen begrüßen das – genauso wie die Litauer die Anwesenheit der deutschen Soldaten in ihrem Land.
Vor dem Restaurant "Zum Heiligen Nikolaus" steht Zbygniew, Rentner, Ende 70, lebendige Augen.
"Ich denke, das ist besser für uns, denn ich weiß, was die Russen in der Ukraine gemacht haben. Sie haben ihr die Krim abgenommen, sie sind in den Donbass einmarschiert, und das, obwohl sie den Ukrainern vorher - im Tausch gegen deren Atomwaffen – in einem internationalen Vertrag Unabhängigkeit zugesichert hatten. Die Russen sind einfach gekommen und haben ihnen das weggenommen. Sie können auch zu uns kommen!"
Er möge die Russen wirklich, betont Zbygniew. Er war selbst mehrfach zu Besuch in Kaliningrad.
"Dass das russische Volk keinen Krieg will, weiß ich. Aber ich weiß nicht, was Putin und die russischen Generäle wollen: Die Sowjetunion wiederherstellen? Es gibt sehr viele Waffen. Atomwaffen. Die Iskander-Raketen hier in der Nähe. Putin muss ja nur einen Knopf drücken, und es gibt Krieg. Aber ich glaube, die Wahrscheinlichkeit ist gering."