...zwischen den Worten
und den Dingen, in einem Niemandsland
zwischen den allzeit vibrierenden Gehirnen.
Innen wie außen, gleich nah und fern,
zwischen den Polen, den Thesen, den Fronten
in ihrem mittleren Abstand, anderswo, anderswo!
Durs Grünbein: "Äquidistanz"
© Suhrkamp Verlag
Lyrik als Möglichkeitsraum
06:25 Minuten
Durs Grünbein
ÄquidistanzSuhrkamp, Berlin 2022183 Seiten
24,00 Euro
Durs Grünbeins neue Gedichte präsentieren ihn auf einem neuen Höhepunkt seines Schaffens. Er mahnt vor Geschichtsvergessenheit und beschwört eine metaphysische Lyrik.
Längst überwucherte Bunkereingänge, Flohmarktkrempel als „Überbleibsel namenloser Verbrechen“, Flüsse, in denen sich einstmals das Blut von Kriegen und Revolutionen mischte – was Durs Grünbein in seinen neuen Gedichten unternimmt, sind Zeitreisen, zurück zu den schauerlichen Momenten der Historie des 20. Jahrhunderts.
Gegen die Geschichtsvergessenheit setzt er nicht nur die Spurensuche, die auf vermeintlich unschuldigen Terrains wie dem Wald oder Badeseen bisweilen dunkle Untergründe aufzudecken vermag, sondern auch eine kritische Analyse der Gegenwart.
Provokative Assoziationen
Denn die Vergangenheit lebt in seinen poetischen Gesellschaftsanalysen unentwegt fort, und zwar auf krude Weise, wie der 1962 geborenen Autor beispielsweise in seinem Text „Das Huhn“ veranschaulicht. Hierin begegnet uns das dem Mastbetrieb entkommene, titelgebende Wesen als „Häftling, der die Freiheit entdeckt“ und weiß von Aussortierungen und „Erschießung“ zu berichten.
Dass in der industrialisierten Landwirtschaft faschistoide Praktiken weiterleben würden, soll sogleich eine provokative Assoziation des geflügelten Subjekts nahelegen: „Himmler war Hühnerzüchter, das weißt du? / Schrieb über Hühnerzucht, bevor er…“
Bestechende Bildlichkeit
Neben den tierethischen Implikationen macht sich auch eine Erneuerung im Schreiben bemerkbar. Gerade für seine frühen, formal stringenten Architekturen seiner Gedichte wurde der Büchner-Preisträger bekannt, nun emanzipiert er sich in „Äquidistanz“ von allzu festen Kompositionen. Durchaus noch an die bisher uns vertraute prosaische Anlagen seiner Texte anknüpfend, bedient er sich nun vornehmlich freier Verse und einer klaren Sprache, die keinerlei Experimente braucht.
Die Virtuosität seiner Dichtung äußert sich vielmehr in ihrer bestechenden Bildlichkeit. So erscheint Deutschland bei der Zonenfestlegung durch die Alliierten als „kaltes Pantoffeltierchen / das sich teilt und teilt, mit aller Strenge zerreißt“ und die Mauer als „ein Luftkonstrukt, / an dem die Träume zerbrachen, die Körper, die Ideen“.
Die verlorene Kindheit im raschelnden Papier
Dass inmitten all der historischen Tragik hingegen auch die verlorene Kindheit aus einem Papierrascheln hervortreten kann, dass wir auch der Schönheit des Reisens oder der Wiedereroberung vormals touristisch ausgebeuteter Natur gewahr werden, verdankt sich einem schöpferischen Selbstverständnis des Dichters.
Er beherrscht, wie der Titel eines seiner Poeme betont, die „Poesia metafisica“. Diese kann aus dem Nichts Sichtbares schaffen, uns – losgelöst von allen physikalischen Gesetzmäßigkeiten – auf den Meeresgrund zu einem göttlichen Ursprung führen oder uns mit den Toten in Kontakt treten lassen. All dies findet innerhalb eines Möglichkeitsraums statt. Dort entfaltet sich der Lyriker und zwar...
Ein Stück über allem zu schweben und ein sowohl zeitliches als auch räumliches Interim zu besetzen, dies bedeutet die titelgebende Äquidistanz des Poeten. Er weiß, „im Vers ideenschnell [zu] flieg[en]“, genauso hinein in die Abgründe wie hinauf zu den Gipfeln der Existenz, wo uns „ein Sehenlernen / durch Blütenstaub“ bereichert.
Diese Spanne an sprachlich verdichtetem Erfahrungsreichtum ist ein Geschenk und zeigt Grünbein auf einem neuen Höhepunkt seines Wirkens.