Ärzte ohne Grenzen: Humanitäre Hilfe wird von Regierungen missbraucht
Ulrike von Pilar, langjährige Geschäftsführerin der deutschen Sektion der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen", beklagt einen zunehmenden Missbrauch der humanitären Hilfe. Das Humanitäre würde auch benutzt, um "Sicherheitspolitik einen menschlichen Anstrich zu geben".
André Hatting: Nigeria, Afghanistan, Kambodscha, Haiti, Ruanda, Libanon, Jugoslawien, Tschetschenien, Libyen – ich könnte die Liste noch lange weiterführen, sie steht für das unermüdliche Engagement einer der wichtigsten Nichtregierungsorganisationen in der Welt: Ärzte ohne Grenzen. Allein in diesem Jahr betreuen sie über 400 Projekte in 60 Ländern, mehr als 7,5 Millionen Menschen wurden und werden dabei betreut und versorgt. Heute vor genau 40 Jahren gründeten in Paris ein Dutzend französischer Mediziner und Journalisten die Médecins Sans Frontières, kurz MSF. Bei mir im Studio ist jetzt die Gründungspräsidentin der deutschen Sektion und ihre langjährige Generalsekretärin, Ulrike von Pilar. Guten Morgen, Frau von Pilar!
Ulrike von Pilar: Guten Morgen, Herr Hatting!
Hatting: Ich habe in der Festschrift aus Paris einen interessanten Satz gelesen, und zwar hieß es dort, die wichtigste Neuerung von Ärzte ohne Grenzen war erstaunlicherweise die medizinische Behandlung. Da frage ich mich natürlich: Was hat eigentlich das Rote Kreuz vorher gemacht?
von Pilar: Ja, eben nicht in erster Linie medizinische Behandlung. Also zum allerersten ist das Rote Kreuz die Hüterin des humanitären Völkerrechts, also den Schutz der Verwundeten und Kämpfenden und auch der Zivilbevölkerung in Konflikten. Sie haben immer auch Medizin gehabt, aber was eben diese allerersten Kollegen Ende der 60er-Jahre in Biafra, die dort mit dem Roten Kreuz waren, feststellen mussten: dass es keine angepassten Methoden gab, also das heißt, in einem Drittweltland – wie man damals noch sagte – wie eben Nigeria also sehr schnell unter extremen Bedingungen großen Mengen von Menschen zu Hilfe kommen. Und dafür gab es weder die Ausrüstung noch die medizinischen Methoden.
Und das war in der Tat die erste Großtat finde ich, die viele der Ärzte dann geleistet haben, dass wir doch über die Jahre und Jahrzehnte einen riesigen Korpus von medizinischem Wissen und neuen, angepassten Methoden entwickelt haben – das geht bis weit in die Logistik hinein natürlich, aber zum Beispiel hätte kein Mensch vor 40 Jahren gewusst, wie man auf einen Schlag 20.000 Cholerapatienten behandelt, und heute können wir das.
Hatting: Es gibt zum Roten Kreuz noch einen anderen, sehr wichtigen Unterschied, und das ist, dass es bei Ihnen nicht ein striktes Neutralitätsgebot gibt.
von Pilar: Also in den ersten Jahren, würden wir heute wohl feststellen, waren wir eigentlich gar nicht besonders neutral. Wir hatten hauptsächlich mit Flüchtlingen, die totalitäre, kommunistische Regime flohen, zu tun, und wir waren doch sehr viel stärker auf der Seite, wenn Sie so wollen, der liberalen, menschenrechtlich orientierten Demokratien und haben da auch Stellung bezogen, ob das in Afghanistan war oder in Äthiopien oder eben in Kambodscha.
Mit 1989 hat sich das ein bisschen geändert, und man kann sagen, dass wir etwas neutraler geworden sind, und der Grund ist schlicht, dass seit '89 und besonders seit 9/11 unsere eigenen Regierungen mehr und mehr militärisch engagiert sind, ganz sicher aber mit einer politischen, sicherheitspolitischen Agenda tätig sind in den Ländern, wo wir eben auch arbeiten, also siehe Afghanistan, Pakistan, Kongo und so weiter.
Das macht uns das Leben extrem schwer, weil, wie Sie sich denken können: Wir werden nicht gerne mit unseren Soldaten verwechselt. Das hat gar nichts mit Politik und Neutralität zu tun, aber wir machen was anderes, und wir wollen das machen können, und wir wollen als unabhängig gesehen werden.
Hatting: Das andere ist aber auch, dass es manchmal schwierig ist, nicht von den Staaten vor Ort vereinnahmt zu werden. Sie sprechen in dem Buch, das Sie jetzt herausgegeben haben, "40 Jahre MSF", davon, dass es auch eine Geschichte der verlorenen Unschuld ist. Was genau meinen Sie?
von Pilar: Eigentlich ist ja humanitäre Hilfe was unheimlich Simples und, wenn Sie so wollen, was relativ Unschuldiges – Überlebenshilfe in akuten, extremen Krisen. Es ist das grundlegendste Menschenrecht überhaupt. Trotzdem wird es permanent mit Füßen getreten, und trotzdem werden wir permanent kooptiert. Warum? Weil das Humanitäre eben so schön und simpel und verständlich ist, dass alle sich dessen bedienen, vor allen Dingen eben in den letzten 20 Jahren, inklusive unseres Außenministers: Wenn man über Libyen spricht, kommt sofort als erstes immer "humanitär" und "humanitäre Hilfe".
Das war vor 40 Jahren nicht so, kein Mensch hat von humanitärer Hilfe gesprochen. Das heißt, es dient eben auch dazu, Sicherheitspolitik einen menschlichen Anstrich zu geben, um es ganz platt zu sagen. Aber die Regierungen vor Ort oder auch die Rebellengruppen natürlich genauso: Erstens veruntreuen sie Hilfsgüter, was immer wieder passiert und wo wir dann die Verantwortung haben, zu versuchen, das herauszukriegen und zu stoppen, um eben nicht weiter den Konflikt anzuheizen ...
Man ist also permanent in einem Dilemma: Obwohl man was ganz Unschuldiges tun möchte, wird man immer wieder von allen Seiten politisch vereinnahmt. Und das ist das Grunddilemma eigentlich.
Hatting: Leider sogar manchmal erfolgreich, Beispiel ist eben die Gründung Biafra in Nigeria, das war, wenn man das heute so sieht, eigentlich ein Missverständnis genau genommen.
von Pilar: Also es war ein Missverständnis insofern, als die französischen Ärzte damals der Meinung waren, dass sie Zeugen eines Völkermords werden, und das wollten sie rausschreien und haben sich deswegen eben auch nicht an das Neutralitätsgebot des Roten Kreuzes halten können. Aber sie haben es falsch verstanden. Man weiß heute, dass es Hunger gab, dass Menschen gestorben sind, aber es war kein Völkermord.
Hatting: Kann humanitäre Hilfe auch schaden?
von Pilar: Ja, natürlich kann humanitäre Hilfe schaden. Eines der fürchterlichsten Beispiele waren die Jahre nach dem Völkermord in Ruanda, als sich im Nachbarland, damals Zaire, dann Republik Kongo, zu Beginn Millionen von Flüchtlingen befanden, und keiner – also weder die zairische Regierung noch die UN – es geschafft haben, die Mörder von den eigentlichen Flüchtlingen zu trennen. Und in diesen Lagern ist humanitäre Hilfe systematisch missbraucht und in Waffen angelegt worden mit dem Ziel, den Völkermord zu vollenden, wie es hieß. Und damals haben wir vergeblich protestiert, sehr bitter protestiert, und mussten schließlich ... fühlten uns gezwungen, zu gehen, um nicht zu Komplizen dieser neuen Mordattacken zu werden. Es war wirklich schlimm.
Hatting: Frau von Pilar, wenn Sie jetzt heute zurückblicken auf 40 Jahre Ärzte ohne Grenzen und dann auf die Weltkarte schauen, müssen Sie dann sagen, also wirklich verbessert hat sich die humanitäre Lage leider nicht?
von Pilar: Also so pauschal würde ich es, glaube ich, nicht sagen. Ich denke, es ist trotz allem bemerkenswert, dass seit vielen Jahren tausende von Helfern trotz aller Schwierigkeiten im Sudan, also auch in Darfur arbeiten können, ich glaube, das wäre vor 40 Jahren undenkbar gewesen. Ich glaube, dass, so schrecklich Haiti als Katastrophe war, aber dass die Hilfsorganisationen da Großartiges geleistet haben und auch viel gelernt haben und besser geworden sind. Aber es gibt blinde Flecken auf der Landkarte, das heißt, es gibt Millionen von Menschen, die Hilfe bräuchten und sie nicht kriegen, weil es schlicht zu gefährlich ist, weil wir nicht hinkommen, ...
Hatting: Zum Beispiel?
von Pilar: ... ob das Nordkorea ist, ob es Teile von Somalia sind – wir wissen heute nicht, was in Somalia wirklich vor sich geht, keiner weiß es. Es gibt Gegenden von Afghanistan, wo die Menschen keine Hilfe bekommen, Gegenden im Kongo natürlich nach wie vor, wo Menschen keine Hilfe bekommen und wir nicht wissen, wie es ihnen wirklich geht. Und das sind die Kontexte, die uns am meisten am Herzen liegen und die einen dann doch bitter machen. Aber es stimmt sicher nicht überall.
Hatting: Ärzte ohne Grenzen feiert heute seinen 40. Geburtstag, das war ein Gespräch mit Ulrike von Pilar, langjährige Geschäftsführerin der deutschen Sektion. Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute!
von Pilar: Ich danke Ihnen sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Ulrike von Pilar: Guten Morgen, Herr Hatting!
Hatting: Ich habe in der Festschrift aus Paris einen interessanten Satz gelesen, und zwar hieß es dort, die wichtigste Neuerung von Ärzte ohne Grenzen war erstaunlicherweise die medizinische Behandlung. Da frage ich mich natürlich: Was hat eigentlich das Rote Kreuz vorher gemacht?
von Pilar: Ja, eben nicht in erster Linie medizinische Behandlung. Also zum allerersten ist das Rote Kreuz die Hüterin des humanitären Völkerrechts, also den Schutz der Verwundeten und Kämpfenden und auch der Zivilbevölkerung in Konflikten. Sie haben immer auch Medizin gehabt, aber was eben diese allerersten Kollegen Ende der 60er-Jahre in Biafra, die dort mit dem Roten Kreuz waren, feststellen mussten: dass es keine angepassten Methoden gab, also das heißt, in einem Drittweltland – wie man damals noch sagte – wie eben Nigeria also sehr schnell unter extremen Bedingungen großen Mengen von Menschen zu Hilfe kommen. Und dafür gab es weder die Ausrüstung noch die medizinischen Methoden.
Und das war in der Tat die erste Großtat finde ich, die viele der Ärzte dann geleistet haben, dass wir doch über die Jahre und Jahrzehnte einen riesigen Korpus von medizinischem Wissen und neuen, angepassten Methoden entwickelt haben – das geht bis weit in die Logistik hinein natürlich, aber zum Beispiel hätte kein Mensch vor 40 Jahren gewusst, wie man auf einen Schlag 20.000 Cholerapatienten behandelt, und heute können wir das.
Hatting: Es gibt zum Roten Kreuz noch einen anderen, sehr wichtigen Unterschied, und das ist, dass es bei Ihnen nicht ein striktes Neutralitätsgebot gibt.
von Pilar: Also in den ersten Jahren, würden wir heute wohl feststellen, waren wir eigentlich gar nicht besonders neutral. Wir hatten hauptsächlich mit Flüchtlingen, die totalitäre, kommunistische Regime flohen, zu tun, und wir waren doch sehr viel stärker auf der Seite, wenn Sie so wollen, der liberalen, menschenrechtlich orientierten Demokratien und haben da auch Stellung bezogen, ob das in Afghanistan war oder in Äthiopien oder eben in Kambodscha.
Mit 1989 hat sich das ein bisschen geändert, und man kann sagen, dass wir etwas neutraler geworden sind, und der Grund ist schlicht, dass seit '89 und besonders seit 9/11 unsere eigenen Regierungen mehr und mehr militärisch engagiert sind, ganz sicher aber mit einer politischen, sicherheitspolitischen Agenda tätig sind in den Ländern, wo wir eben auch arbeiten, also siehe Afghanistan, Pakistan, Kongo und so weiter.
Das macht uns das Leben extrem schwer, weil, wie Sie sich denken können: Wir werden nicht gerne mit unseren Soldaten verwechselt. Das hat gar nichts mit Politik und Neutralität zu tun, aber wir machen was anderes, und wir wollen das machen können, und wir wollen als unabhängig gesehen werden.
Hatting: Das andere ist aber auch, dass es manchmal schwierig ist, nicht von den Staaten vor Ort vereinnahmt zu werden. Sie sprechen in dem Buch, das Sie jetzt herausgegeben haben, "40 Jahre MSF", davon, dass es auch eine Geschichte der verlorenen Unschuld ist. Was genau meinen Sie?
von Pilar: Eigentlich ist ja humanitäre Hilfe was unheimlich Simples und, wenn Sie so wollen, was relativ Unschuldiges – Überlebenshilfe in akuten, extremen Krisen. Es ist das grundlegendste Menschenrecht überhaupt. Trotzdem wird es permanent mit Füßen getreten, und trotzdem werden wir permanent kooptiert. Warum? Weil das Humanitäre eben so schön und simpel und verständlich ist, dass alle sich dessen bedienen, vor allen Dingen eben in den letzten 20 Jahren, inklusive unseres Außenministers: Wenn man über Libyen spricht, kommt sofort als erstes immer "humanitär" und "humanitäre Hilfe".
Das war vor 40 Jahren nicht so, kein Mensch hat von humanitärer Hilfe gesprochen. Das heißt, es dient eben auch dazu, Sicherheitspolitik einen menschlichen Anstrich zu geben, um es ganz platt zu sagen. Aber die Regierungen vor Ort oder auch die Rebellengruppen natürlich genauso: Erstens veruntreuen sie Hilfsgüter, was immer wieder passiert und wo wir dann die Verantwortung haben, zu versuchen, das herauszukriegen und zu stoppen, um eben nicht weiter den Konflikt anzuheizen ...
Man ist also permanent in einem Dilemma: Obwohl man was ganz Unschuldiges tun möchte, wird man immer wieder von allen Seiten politisch vereinnahmt. Und das ist das Grunddilemma eigentlich.
Hatting: Leider sogar manchmal erfolgreich, Beispiel ist eben die Gründung Biafra in Nigeria, das war, wenn man das heute so sieht, eigentlich ein Missverständnis genau genommen.
von Pilar: Also es war ein Missverständnis insofern, als die französischen Ärzte damals der Meinung waren, dass sie Zeugen eines Völkermords werden, und das wollten sie rausschreien und haben sich deswegen eben auch nicht an das Neutralitätsgebot des Roten Kreuzes halten können. Aber sie haben es falsch verstanden. Man weiß heute, dass es Hunger gab, dass Menschen gestorben sind, aber es war kein Völkermord.
Hatting: Kann humanitäre Hilfe auch schaden?
von Pilar: Ja, natürlich kann humanitäre Hilfe schaden. Eines der fürchterlichsten Beispiele waren die Jahre nach dem Völkermord in Ruanda, als sich im Nachbarland, damals Zaire, dann Republik Kongo, zu Beginn Millionen von Flüchtlingen befanden, und keiner – also weder die zairische Regierung noch die UN – es geschafft haben, die Mörder von den eigentlichen Flüchtlingen zu trennen. Und in diesen Lagern ist humanitäre Hilfe systematisch missbraucht und in Waffen angelegt worden mit dem Ziel, den Völkermord zu vollenden, wie es hieß. Und damals haben wir vergeblich protestiert, sehr bitter protestiert, und mussten schließlich ... fühlten uns gezwungen, zu gehen, um nicht zu Komplizen dieser neuen Mordattacken zu werden. Es war wirklich schlimm.
Hatting: Frau von Pilar, wenn Sie jetzt heute zurückblicken auf 40 Jahre Ärzte ohne Grenzen und dann auf die Weltkarte schauen, müssen Sie dann sagen, also wirklich verbessert hat sich die humanitäre Lage leider nicht?
von Pilar: Also so pauschal würde ich es, glaube ich, nicht sagen. Ich denke, es ist trotz allem bemerkenswert, dass seit vielen Jahren tausende von Helfern trotz aller Schwierigkeiten im Sudan, also auch in Darfur arbeiten können, ich glaube, das wäre vor 40 Jahren undenkbar gewesen. Ich glaube, dass, so schrecklich Haiti als Katastrophe war, aber dass die Hilfsorganisationen da Großartiges geleistet haben und auch viel gelernt haben und besser geworden sind. Aber es gibt blinde Flecken auf der Landkarte, das heißt, es gibt Millionen von Menschen, die Hilfe bräuchten und sie nicht kriegen, weil es schlicht zu gefährlich ist, weil wir nicht hinkommen, ...
Hatting: Zum Beispiel?
von Pilar: ... ob das Nordkorea ist, ob es Teile von Somalia sind – wir wissen heute nicht, was in Somalia wirklich vor sich geht, keiner weiß es. Es gibt Gegenden von Afghanistan, wo die Menschen keine Hilfe bekommen, Gegenden im Kongo natürlich nach wie vor, wo Menschen keine Hilfe bekommen und wir nicht wissen, wie es ihnen wirklich geht. Und das sind die Kontexte, die uns am meisten am Herzen liegen und die einen dann doch bitter machen. Aber es stimmt sicher nicht überall.
Hatting: Ärzte ohne Grenzen feiert heute seinen 40. Geburtstag, das war ein Gespräch mit Ulrike von Pilar, langjährige Geschäftsführerin der deutschen Sektion. Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute!
von Pilar: Ich danke Ihnen sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.