Rechtspopulismus

15 unangenehme Fragen zum Umgang mit der AfD

Die AfD-Parteivorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla in der 116. Sitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude in Berlin.
Ist Dauer-Empörung über die AfD bereits ein glaubwürdiges politisches Angebot gegen die Dauer-Empörtheit der AfD selbst? – Eine von Christian Schüles 15 Fragen © picture alliance / Geisler-Fotopress / Frederic Kern / Geisler-Fotopress
Von Christian Schüle |
20 Prozent würde die AfD auf Bundesebene laut aktuellen Umfragen bekommen und wäre damit zweitstärkste Partei. Für Autor Christian Schüle ist hier auch wichtig zu fragen, welche Rolle der Umgang mit der AfD für deren Aufstieg gespielt hat.
1. Wenn seit zehn Jahren das Ziel aller Demokraten darin bestanden haben sollte, die AfD zu entzaubern und überflüssig zu machen, wurde dann bis heute diesbezüglich nicht total versagt? Ist die Wirklichkeit nicht vielleicht weitaus komplexer, als das Wunschdenken es nahelegt?
2. Ist Dauerempörung über die AfD bereits ein glaubwürdiges politisches Angebot gegen die Dauerempörtheit der AfD selbst?
3. Erledigt sich das Problem „rechts“ wirklich von selbst, je öfter man geschichtswissenschaftlich fragwürdige Nazi-Vergleiche verschleudert – oder macht man auf diese Weise das Problem vielleicht sogar unlösbar?
4. Haben wir als Gesellschaft wirklich verstanden, wie verheißungsvoll rückwärtsgerichtete Geborgenheitsversprechen für jene sind, die sich vom Global Lifestyle gerade nicht angezogen, sondern aussortiert fühlen?
5. Wäre nicht denkbar, dass Transformation in hohem Tempo das Selbstwirksamkeitsgefühl von Menschen zerstören kann?

Kluge Angebote für Bindung und Bildung

6. Kann es sein, dass mehr Menschen als vermutet glauben, ihre Sehnsucht nach einer überschaubaren, traditionsverbindlichen Welt von gestern nirgendwo anders hin adressieren zu können als zur AfD, weil nationalkonservative Sicherheitssehnsüchte hierzulande postwendend unter Faschismusverdacht stehen?
6. Müsste man dieser Sehnsucht nach der überschaubaren Welt nicht vielmehr mit nachhaltigen und klugen Angeboten für Bindung und Bildung begegnen?
7. Kann es sein, dass sich jene Mitbürgerinnen und Mitbürger der AfD zuwenden, die weder Anerkennung noch Wertschätzung erfahren und deren Leben von Brüchen, Entwertung und Kontrollverlust gekennzeichnet ist?

Unter Demokratie etwas anderes verstanden?

8. Ist es nachvollziehbar, dass eine zu scheitern drohende Integrations- und Migrationspolitik, wie sie auch CDU und FDP feststellen, zu Sorge und Furcht vor Kontrollverlust führt?
9. Könnte es sein, dass westdeutsche Politiker, Kommentatoren und Aktivisten nicht wissen, was ostdeutsche Wählerinnen und Wähler umtreibt, weil sie entweder keine kennen oder mit keinen gesprochen haben, aber meinen, sie wüssten auch so Bescheid?
10. Ist es nachvollziehbar, dass Ostdeutsche mit Diktaturerfahrung allergisch gegen Belehrungen von oben reagieren, weil sie unter Demokratie etwas anderes verstanden haben?
11. Kann es sein, dass die Unterstellung, Wählerinnen und Wähler vor allem im Osten seien Hinterwäldler und Dunkeldeutsche, an der Realität vorbeigeht und jede Abwertung die Saat für weiteren Widerstand gegen genau diese Abwertung streut?
12. Verhindern reflexhafte Hinweise, es müsse im Fall der AfD endlich mal um „die Sache“ gehen, nicht die sachliche Auseinandersetzung, weil der ständige Hinweis auf fehlende sachliche Auseinandersetzung noch lange keine Auseinandersetzung in der Sache ist?
13. Wollte man eine Aufkündigung der Demokratie und die Hinwendung zum Autoritären in Teilen der Bevölkerung tatsächlich verhindern – wäre es dann nicht sinnvoll, möglichst schnell Möglichkeiten demokratischer Teilhabe aufzubauen: Bürgerbeteiligung, Zukunftsräte, lokale Mitbestimmungsverfahren?

Konstruktive Identitätsangebote machen

14. Müsste man dann nicht längst anfangen, in den Hochgebieten der AfD-Wähler Zukunftsindustrien anzusiedeln, Forschung zu fördern, den Nahverkehr aus- statt abzubauen, medizinische Versorgung auszuweiten und Sozialräume zu öffnen statt zu schließen?
15. Müssten die, die eine offene, pluralistische, diverse Gesellschaft wollen, nicht dringend die Strategie ändern und den Menschen konstruktive Identitätsangebote machen?

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat. Ein Phantomschmerz“ sowie „In der Kampfzone“.

Der Autor Christian Schüle auf der Frankfurter Buchmesse, 2013.
© imago / Sven Simon
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