Die Renaissance der Ideologien?
Die Rechtspopulisten von der AfD dominieren die aktuelle politischen Debatte. Mit der Partei ziehe die "rechte Ideologie" in die Parlamente ein, heißt es. Nils Markwardt fragt sich, ob rechtsideologisches Gedankengut wirklich wieder hoffähig ist.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs schien die Welt ins postideologische Zeitalter einzutreten. Hatte der französische Philosoph Jean-François Lyotard bereits zehn Jahre zuvor das Ende der "großen Erzählungen" ausgerufen, konstatierte der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nun gar das "Ende der Geschichte". Vorbei sollten sie sein, die weltanschaulichen Grabenkämpfe. Vielmehr regierte nun der Pragmatismus der Posthistorie.
Das stimmte jedoch damals schon nicht, weil der nun herrschende Neoliberalismus selbst eine Ideologie war, die sich lediglich als Sachzwang kostümierte. Spätestens seit der Flüchtlingskrise zeigt sich die Renaissance der Ideologien aber in aller Deutlichkeit. Zumindest im Modus des Vorwurfs. Sowohl nach rechts als auch nach links. Ja selbst Angela Merkel, die lange als Personifizierung des Pragmatismus galt, firmiert bisweilen als oberste Ideologin Europas. Und zwar als Vertreterin dessen, was französische Rechte abwertend "Droit-de-l'hommisme" bezeichnen, also ein "Menschenrechtismus", ein exzessiver Glaube an Toleranz und Gleichwertigkeit.
Diskrepanz zwischen Denken und Sein
In Marxistischer Tradition meint Ideologie nun grundsätzlich eine aus den Produktionsverhältnissen resultierende Diskrepanz zwischen Denken und Sein, ein "falsches Bewusstsein", einen strukturellen Wirklichkeitsschleier, den es zu lüften gilt. Angemessen scheint der Begriff deshalb immer dann, wenn er auf eine Fehldeutung der Realität zugunsten einer Minderheit zielt. Und zwar einer Minderheit, die diese Fehldeutung gesellschaftlich zu stabilisieren versucht. Unangemessen ist er hingegen dann, wenn er als bloßer Kampfbegriff daherkommt. Und zwar nach der Maßgabe: Ideologisch, das sind immer die anderen, man selbst hingegen stets nüchtern und sachorientiert. So verhält sich auch der Vorwurf im Fall Merkels. Denn hier wird schlicht Ideologie mit Strategie verwechselt. Die Politik der offenen Grenzen, darauf hat der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hingewiesen, ist nämlich vor allem ein Erkaufen von Zeit für eine europäische Lösung. Das kann man gut oder schlecht finden, hat mit Ideologie aber nichts zu tun.
Ideologie wird jedoch nicht nur der Kanzlerin, sondern etwa auch der AfD attestiert. Sie exhumiere, so der Vorwurf, die völkischen Weltanschauungen der 20er-Jahre und säe damit jenen blinden Hass, der einst den Boden für den Nationalsozialismus bereitete. En détail stimmt das jedoch beides nicht. Dafür liefert ein jüngst vom Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke veröffentlichter Essay gute Argumente. In dem Text analysiert der in Konstanz lehrende Germanist nämlich Adolf Hitlers "Mein Kampf".
"Mein Kampf" - ein Sammelsurium aus Ideologemen
Und dabei macht er zwei interessante Beobachtungen. Zum einen biete Hitlers 1924 verfasste Hetzschrift zwar eine Menge Hass, aber keine kohärente Ideologie. Hier zeige sich eher ein Sammelsurium aus Ideologemen, ein Konvolut aus weltanschaulichen Versatzstücken. Gerade deshalb war das Buch jedoch so wirkmächtig. Die Vagheit der Weltanschauung bot bestimmten Milieus den Anreiz, "ihr mit eigenhändigen Präzisierungen intellektuell aufzuhelfen." Das war etwa auch der Grund, warum Philosophen wie Martin Heidegger glaubten, den "Führer" führen zu können. Nun geht es nicht um reflexhafte Vergleiche, denn selbstverständlich ist die NSDAP nicht die AfD. Aber auf rein strategischer Ebene findet sich bei letzterer Ähnliches. Ihre Attraktivität speist sich für viele nicht aus der Existenz eines systematischen Gedankengebäudes, sondern vielmehr aus dessen Abwesenheit. Sprich: Es ist gerade die programmatische Unschärfe, das fremdenfeindliche Geraune, das sowohl klassische Konservative, völkische Rassisten als auch Protestwähler mit der Partei sympathisieren lässt.
Zum zweiten macht Koschorke deutlich, dass Hass oftmals eben nicht blind ist, sondern vielmehr "hysterisch reflexiv". Das heißt: Die Empörungen über die eigenen Tabubrüche sind oft längst einkalkuliert. Da zeigt sich ebenfalls bei der AfD. Gerade wurde etwa eine internes Memo Frauke Petrys öffentlich, in dem diese "provokative Äußerungen" von Parteifreunden einfordert, um mediale Beachtung zu finden. Die Medien sollten sich also sehr genau überlegen, ob sie wirklich über jedes Stöckchen springen wollen, dass die AfD ihnen hinhält.