Zwischen Abschiebeknast und Untergrund
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Viele afghanische Flüchtlinge stranden in der Türkei. Dort landen sie in Abschiebegefängnissen oder müssen in der Illegalität leben. Derweil benutzt Präsident Erdoğan die Flüchtlinge als Druckmittel bei Verhandlungen mit der EU.
Was in Deutschland das Mantra "2015 darf sich nicht wiederholen" ist, lautet beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan:
"Die Türkei ist nicht gezwungen, zum Flüchtlingslager Europas zu werden."
Eine Botschaft, die die türkische Regierung derzeit mit Worten und Taten untermauert.
Wir haben die Absicht, eine Mauer zu bauen
Letzteres ist wörtlich zu nehmen, denn an der Grenze zu Iran, über die bisher die afghanischen Flüchtlinge überwiegend kamen, wird eine Mauer gebaut.
Dort, wo die Grenzmauer schon steht, etwa bei Caldiran in der Provinz Van, patrouillieren schwere gepanzerte Fahrzeuge entlang der drei Meter hohen Absicherung aus Beton.
Fast 300 Kilometer der 534 Kilometer langen Grenze will die Türkei durch eine Mauer sichern. Nach offiziellen Angaben ist die Hälfte bereits fertig.
Bezahlter Menschenschmuggel
Wo es für eine Mauer zu gebirgig ist, sollen Wärmebildkameras und Drohnen helfen, illegale Einwanderer und deren Schleuser aufzuspüren, erklärt ein Grenzschützer, der das aber nicht ins Mikrofon sagen darf.
Bisher war es relativ einfach, Migranten von der iranischen auf die türkische Seite zu bringen, sagt einer der Menschenschmuggler, der sich gemeinsam mit einigen afghanischen Frauen und Männern in einem Haus in der Provinzstadt Van versteckt.
"Die iranischen Polizisten nehmen Geld von uns. Wir bezahlen sie, damit die Leute über die Grenze können. In der Türkei nehmen manche Polizisten Geld. Manche aber nicht und schicken die Leute zurück. Wir schicken sie dann erneut über die Grenze. Irgendwann klappt es schon."
Vor allem im Frühsommer sei das Geschäft gut gelaufen. Damals habe die Zahl der Flüchtlinge extrem zugenommen, sagt der vermummte Mann. Er und seine Kollegen wären da kaum noch hinterhergekommen. Reich sei er dabei allerdings nicht geworden.
1500 Dollar für die Strecke Afghanistan-Istanbul
Pro Familie, die über die Grenze gebracht wird, würde er nur etwa 100 Dollar verdienen. Zahlen müssen die Flüchtlinge ein Vielfaches. Insider sprechen von 1000 bis 1500 US-Dollar für die Strecke Afghanistan–Istanbul, auch um Grenzbeamte zu bestechen.
Das hat auch dem jungen Afghanen Davut und seiner Familie den Grenzübertritt ermöglicht. Nach einer beschwerlichen und gefährlichen Reise zu Fuß und in Lieferwagen ging es zunächst in ein Bergdorf im Grenzgebiet:
"Gegen ein Uhr nachts haben sie uns aus der Unterkunft geholt und gesagt: 'Los, es geht weiter'. Der Fahrer ist wie verrückt gefahren und hat einen Unfall gebaut. Dann haben sie uns einfach ausgesetzt und gesagt, wir müssen jetzt weiterlaufen, sie sammeln uns dann irgendwann wieder ein."
Damit ist es nun offiziell vorbei. Das iranische Innenministerium wies die Grenzschützer an, niemanden mehr in die Türkei zu lassen.
Stattdessen sollten Flüchtende aus Afghanistan in Pufferzonen an drei Grenzübergängen gesammelt und versorgt werden. Von dort könnten sie auch leichter in ihr Heimatland zurückkehren, so ein Sprecher des Innenministeriums.
Noch ist Ruhe an der Grenze
Das könnte ein Grund sein, warum derzeit kaum Flüchtlinge aus Afghanistan auf dem Landweg über Iran in der Türkei ankommen. Türkische Grenzschützer in der Provinz Van sagen, noch vor wenigen Wochen hätten sie in manchen Nächten mehr als tausend Migranten aufgespürt, jetzt seien es manchmal nur sechs oder sieben – oder auch keiner.
Das sei der Mauer zu verdanken, sagt einer der Grenzschützer. Und den Taliban, die Afghaninnen und Afghanen nicht mehr außer Landes ließen. Die 19-jährige Süreyya hat Afghanistan vor drei Monaten gemeinsam mit ihrer Schwester und ihren Neffen und Nichten verlassen. Zunächst ging es nach Pakistan, dann durch den Iran und schließlich in die Türkei.
"Es gibt keine Sicherheit in Afghanistan", sagt sie. "Und die Lebensbedingungen sind schlecht, vor allem für uns Frauen."
"Wir mussten sehr viel laufen"
Die Taliban seien noch nicht in ihrem Dorf in der Provinz Herat angekommen, aber sie seien sehr nahe gewesen, sagt Süreyya. Sie ist ledig und hat im dritten Semester Physik studiert. Der Mann ihrer Schwester sei bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen. Für die beiden Frauen mit den fünf Kindern sei die Flucht in die Türkei sehr beschwerlich gewesen:
"Wir mussten sehr viel laufen, bergauf und bergab. Es gab manchmal nichts zu essen und kein Wasser."
Süreyya und ihre Begleiter wurden von türkischen Grenzschützern aufgegriffen. Mittlerweile sitzen sie seit 17 Tagen im ostanatolischen Van in einem von landesweit 25 Abschiebezentren.
Mit einem sechs Meter hohen Zaun, vergitterten Fenstern und stählernen Zellentüren – nichts anderes als ein Gefängnis. Co-finanziert von der Europäischen Union. Bisher wurden die Geflüchteten von hier schnell abgeschoben. Doch das geht im Fall von Afghanistan zurzeit nicht.
"Wir wünschen uns nichts mehr als ein sicheres Leben"
Noch sei reichlich Platz, sagt der Direktor des Abschiebezentrums. Wie viele im Moment dort sind, will er nicht sagen. Augenscheinlich aber nicht besonders viele. Für Süreyya und die anderen ist völlig ungewiss, wie lange sie dort bleiben müssen. Die junge Frau sagt, zurück nach Afghanistan wolle sie auf keinen Fall:
"Wir sind dem Krieg entkommen und wir wünschen uns nichts mehr als ein sicheres Leben. Von mir aus ein einfaches Leben, aber einen sicheren Platz für meine Schwester, meine Nichten und Neffen und für mich."
Von ihr aus auch in der Türkei, sagt Süreyya und zupft ihr Kopftuch zurecht. Dabei stehen afghanische Flüchtlinge dort vor einer extrem ungewissen Zukunft.
Der Vorteil, aus Syrien zu kommen
Der türkische Staat gewährt Afghanen keinerlei Schutzstatus wie etwa den syrischen Flüchtlingen, sagt Resul Demir, Vorsitzender der Refugees Rights Association in Istanbul. Das wirke sich unmittelbar auch auf die wichtigsten Dinge des Lebens aus:
"Syrer können ihre Kinder auch zur Schule schicken. Sie haben ein Recht auf medizinische Versorgung. Sie dürfen unter bestimmten Umständen arbeiten. Oder die Corona-Impfung zum Beispiel. Jeder registrierte Syrer kann sich impfen lassen. Genau wie ein türkischer Staatsbürger. Die Afghanen können das nicht."
Mohammed war vor vier Jahren aus seinem Dorf im Bezirk Masar-e Scharif geflohen, dort, wo auch die Bundeswehr stationiert war.
Die Taliban wollten Mohammed rekrutieren
Schon damals wollten die Taliban ihn und andere junge Männer rekrutieren. Erst verbrachte er zwei Jahre im Iran, heute lebt er in Gölcük, etwa 80 Kilometer östlich von Istanbul.
Die geräumige Wohnung im obersten Stockwerk eines Mehrfamilienhauses teilt sich der 23-Jährige mit drei anderen jungen Afghanen. Aus dem offenen Wohnzimmerfenster ist in einiger Entfernung sogar das Meer zu sehen. Mohammed arbeitet in einer Backstube, verdient mehr als den türkischen Mindestlohn und hatte sogar eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen.
In Gefahr ohne Aufenthaltserlaubnis
Also alles gut? Keineswegs. Denn die türkischen Behörden haben seine Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert. Plötzlich ist er illegal:
"Ich bewege mich nur noch zwischen der Arbeit und zu Hause. Dabei versuche ich unterschiedliche Wege zu benutzen und der Polizei auszuweichen.
Denn wenn ich kontrolliert werde und keine gültigen Papiere haben, können sie mich sofort ausweisen. Einem meiner Freunde ist das passiert."
Nicht nur an der Grenze, auch in den Städten gehen die türkischen Behörden verschärft gegen illegale Einwanderer vor. Bei Razzien in Istanbul nahm die Polizei nach Angaben des Gouverneurs innerhalb eines Tages fast 550 Zuwanderer ohne gültige Papiere in Gewahrsam. Darunter 167 Afghaninnen und Afghanen.
Eine zunehmend fremdenfeindliche Bevölkerung
Damit reagiert die Regierung auch auf eine zunehmend fremdenfeindliche Stimmung in der türkischen Bevölkerung. Teile der Opposition greifen das auf.
Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der größten Oppositionspartei CHP, kündigte an, im Falle eines Sieges seiner Partei bei den nächsten Wahlen alle Flüchtlinge binnen zwei Jahren nach Hause zu schicken. Kurz nach dieser Äußerung kam es zu einer Hetzjagd auf Migranten in einem Stadtteil von Ankara.
Mohammed hat Anfeindungen wie in Ankara bisher selbst nicht miterleben müssen. Seine Erfahrungen mit der türkischen Gesellschaft sind durchwachsen:
"In jedem Land gibt es gute und schlechte Menschen. Hier sehen manche uns Afghanen als ihre Geschwister. Andere denken, dass die Afghanen als Flüchtlinge hierherkommen und ein besseres Leben führen als manche Türken."
Geflüchtete als Wahlkampfthema?
Auch in der Partei von Staatspräsident Erdoğan nehmen Ressentiments gegen Migranten zu. Nach einer aktuellen Umfrage sehen 70 Prozent der AKP-Anhänger Flüchtlinge als Problem. Sie werfen der Regierung vor, zu viele von ihnen ins Land gelassen zu haben.
Das könnte ausschlaggebend bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in zwei Jahren sein. Präsident Erdoğan ist ein Getriebener der eigenen Flüchtlingspolitik. Einerseits versucht er, den bisherigen Kurs zu verteidigen und ihn andererseits radikal zu ändern:
"Uns ist durchaus klar, dass die Welle irregulärer Flüchtlinge Unruhe und Sorge hervorruft. Dennoch gibt es wohl kein anderes Land auf der Welt, dass gemessen an der Zahl aufgenommener Flüchtlinge eine so geringe Kriminalität aufweist. Dass die Opposition aus einzelnen Fällen politisch Profit schlagen will, ist hinterlistig und gefährlich."
"Sollen wir die ganze Last tragen?"
Erdoğan ärgert sich vor allem über Oppositionsführer Kilicdaroglu, der ihn in der Flüchtlingsfrage vor sich hertreibt. Wohlwissend um die Not in Afghanistan polemisiert Kilicdaroglu gegen die Gespräche zwischen der EU und der Türkei über eine Nachfolge des Flüchtlingspakts:
"Sollen wir die ganze Last tragen damit die Herrschaften in Europa sich wohl fühlen? Nein, eher sollten wir ihnen Geld geben und sie tragen die Last."
Der Druck zeigt Wirkung. Auch bei der Regierung ist die Bereitschaft, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, auf einem Tiefpunkt. Glaubt man Erdoğan, dann auch nicht für Geld und gute Worte.
Zeit für einen neuen Flüchtlingsdeal?
Der Staat sei vor allem für die Sicherheit und den Wohlstand der eigenen Bürger verantwortlich, sagte Erdoğan in einer Rede vor Botschaftern und ergänzte:
"Die Türkei beherbergt zurzeit schon mehr als fünf Millionen Flüchtlinge. Sie kann sich eine zusätzliche Migrationslast aus Syrien oder Afghanistan nicht leisten."
Mit anderen Worten: Will die EU mit der Türkei einen neuen Flüchtlingsdeal eingehen, der auch die Afghan:innen einschließt, dann dürfte der Preis dafür extrem hoch sein. Mit ihrer Forderung nach mehr Geld für Flüchtlinge, einer Ausweitung der Zollunion und der Visafreiheit für Türken in der EU könnte Ankara dann leichtes Spiel haben – sollten tatsächlich so viele Afghanen an die türkische Grenzen drängen, wie zur Zeit angenommen.