Der Flughafen von Kabul wird zur Falle
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Afghanische Theateraktivisten warten an Toren zum Flughafen Kabul unter Lebensgefahr darauf, in einen der rettenden Flieger zu steigen. Sie stehen auf Evakuierungslisten: Doch niemand lässt sie auf das Flughafengelände.
Schüsse am Flughafen Kabul – sie fallen, als ein Mitarbeiter der Theatergruppe vom Flughafen Kabul aus eine Audiobotschaft an seine Kollegen verschickt. Seinen Namen, möchte keiner der Theatermacher genannt wissen, nicht einmal den der Gruppe. Sie fürchten Gefahr für Leib und Leben.
Seit Dienstagvormittag warten sie. Manche verbrachten die Nacht zum Mittwoch am Flughafen. Andere kehrten zwischenzeitlich nach Hause zurück. Jetzt warten sie wieder hier. *
"Tausende Menschen sind vor jedem einzelnen Tor", beschreibt ein anderes Mitglied des Theaterkollektivs, das auch als Menschenrechtsorganisation fungiert, die Situation. *
"Sie schießen hier auf die Leute. Denn viele versuchen, auf den Flughafen zu gelangen. Aber leider schießen die internationalen Streitkräfte auf die Menschen, um sie zu zwingen, zurückzugehen. Aber die Leute gehen nicht zurück."
Das Theater der Unterdrückten
25 Mitglieder hat das Kollektiv, vier haben sich bislang ins Ausland absetzen können. Einer der Mitbegründer befindet sich in Estland und koordiniert die Evakuierung. In Afghanistan organisierte die Gruppe zahlreiche Theaterevents im ganzen Land. Ihr Schwerpunkt ist "das Theater der Unterdrückten".
Dabei gehe es darum, "mit dem Publikum Handlungsalternativen zu eruieren", also "Möglichkeiten der Selbstermächtigung auf der Bühne auszuprobieren, um dann idealerweise individuell und kollektiv im wirklichen Leben außerhalb der Bühne in Aktion treten zu können." *
Kriegsopfer erzählen aus ihrer Perspektive
Die Projekte der Gruppe sind aus Opferperspektive angelegt. Zum Teil zum ersten Mal erzählten Mütter über ihre toten Kinder. Folter- und Missbrauchsopfer fanden erstmals Gehör.
Neben interaktiven Theaterevents entwickelte die Gruppe gemeinsam mit den Angehörigen von Kriegsopfern künstlerische Installationen. Sie bestehen aus authentischen Erinnerungsobjekten an die Kriegstoten und künstlerischen Objekten, die während der Workshops geschaffen werden. *
Die Gruppe ist überzeugt: Das Material sei so konkret, dass die Boxen in späteren Kriegsverbrecherprozessen vor dem Internationalen Gerichtshof als Beweismittel genutzt werden könnten.
Die Mitarbeiter sind mehrfach gefährdet
Die insgesamt 25 afghanischen Angestellten und auch viele Teilnehmer der Veranstaltungen sind nun gleich mehrfach gefährdet: Als Menschenrechtsaktivisten; als Menschen, die künstlerisch tätig sind; und als Angehörige von ethnischen und religiösen Minderheiten.
Aus diesem Grund stehen sie auch auf den Evakuierungslisten des Auswärtigen Amts – allerdings nur sie selbst, nicht ihre Angehörigen. Manche Aktivisten haben sich daher entschieden, bei ihren Familien zu bleiben.
Doch für diejenigen, die ausreisen wollen, wird der Flughafen zur Falle. Die Taliban lassen sie zwar in die Nähe des Flughafens. Das internationale Militär aber lässt sie nicht ins Innere.
Ein anderes Mitglied der Gruppe erreichen wir in Kirgisistan. Er beschreibt das Szenario so: "Es gibt zwei Evakuierungssektionen, die eine von den Briten, die andere von den Amerikanern. Sie kommen und empfangen die Leute, die auf den Evakuierungslisten stehen. Sie rufen die Namen auf und nehmen die Leute nach drinnen mit."
Niemand holt sie vom Tor ab
Wer auf einer deutschen Liste steht, hat aber offensichtlich Pech gehabt. Denn niemand kommt zum Tor und sorgt dafür, dass die Berechtigten nach drinnen gelangen können. "Seit dem frühen Morgen sind wir auf der Suche nach einer deutschen Person, dass sie zum Eingang kommt und uns hilft, wie das die Briten und die Amerikaner auch tun". *
Er ist der Verzweiflung nahe. Er wirft den deutschen Dienststellen sogar vor, seine Kolleginnen und Kollegen erst in Gefahr gebracht zu haben: "Ich wünschte, sie hätten sie nicht aufgefordert, zum Flughafen zu kommen. Zu Hause waren sie sicher und ich hatte einen Plan, sie zu retten. Aber jetzt sitzen sie dort fest, niemand hilft ihnen und ihr Leben ist in Gefahr. Es ist eine Schande."
Am heutigen Mittwoch sorgte die Nachricht, dass ein eigenes Charterflugzeug alle Menschenrechtsaktivisten in den Kosovo ausfliegen soll, für neue Hoffnung.
Doch auch dafür müssen sie erst ins Innere des Flughafens gelangen.
*Redaktioneller Hinweis: Wir haben an den gekennzeichneten Stellen Anonymisierungen und Kürzungen vorgenommen.