Afghanistan

Mehr als die Hälfte lebt in Armut

23:36 Minuten
Eine Frau schleppt zusammen mit ihren Kindern Säcke über die Straße.
Weniger als einen Dollar zum Leben pro Tag, für Kinder bedeutet dies, mitarbeiten zu müssen. © AFP/ Wakil Koshar
Von Bernd Musch-Borowska |
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Krieg, Terror, wirtschaftliche Not - mehr als 85 Prozent der Afghanen leiden unter ihrer Lebenssituation. Mehr als die Hälfte der Afghanen hat weniger als einen Dollar pro Tag zur Verfügung. In der Not müssen auch die Kinder mit anpacken.
In einer staubigen Ziegelfabrik am Stadtrand von Kabul stapelt der kleine Kamran in praller Sonne Ziegelsteine übereinander. Der zehnjährige Junge muss mithelfen, damit seine Familie überleben kann.
"Als mein Vater nicht mehr genug Geld verdiente, musste ich auf die Schule verzichten. Seitdem arbeite ich hier zusammen mit meinem Vater in der Ziegelfabrik."

Ohne die Kinder ist es nicht zu schaffen

Sechs Geschwister hat der kleine Kamran und einige Cousinen und Cousins leben auch im Haus, seit deren Vater, Kamrans Onkel, gestorben ist. Ohne die Hilfe der Kinder, sagt Vater Atiqullah, sei es einfach nicht zu schaffen.
"Die Kinder stehen morgens auf und gleich nach dem Gebet kommen sie hierher zur Arbeit. Da gibt es keine Zeit für Schule. Andernfalls könnten wir nicht überleben. Ein Sack Weizenmehl kosten 1450 Afghani, etwa 18 US-Dollar. Wenn wir nicht alle mit anpacken, könnten wir nicht so viel verdienen."
Nach einer Studie des US-Forschungsinstituts Gallup, die jüngst veröffentlicht wurde, lebt ein großer Teil der Afghanen in Armut und Elend. 85 Prozent der Befragten hätten angegeben, sie litten unter ihrer Lebenssituation. Die höchste Zahl seit Beginn solcher Untersuchungen im Jahr 2001. Nach Einschätzung der Weltbank lebt die Hälfte der Afghanen unter der von den Vereinten Nationen definierten Armutsgrenze. Armut sei ein großes und weit verbreitetes Problem, sagte Shubham Chaudhuri, der für Afghanistan zuständige Landesdirektor der Weltbank:
"Einen Dollar pro Tag, braucht ein Mensch nach unserer Definition zum Leben, um die notwendigsten Bedürfnisse decken zu können. Und es stellt sich heraus, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung weniger als das zur Verfügung hat. Besonders schlimm ist, dass fast drei Viertel der Bevölkerung nahe an der Grenze zur Armut sind."

"Im Moment leben wir wie Sklaven"

Eine zehnköpfige Familie könne bei der Arbeit in einer Ziegelfabrik umgerechnet zwölf bis 18 US-Dollar am Tag verdienen, heißt es. Er habe keine Hoffnung mehr, dass sich die Lage seiner Familie jemals ändern werde, klagte Jan Agha, ein 65-jähriges Familienoberhaupt. Seine vier Söhne helfen ihm bereits bei der Arbeit in der Ziegelfabrik. Irgendwann werden auch seine Enkel mitmachen müssen. Jetzt seien sie noch zu klein.
"Wir denken ständig über unsere Zukunft nach, wie lange wir das wohl noch schaffen, mit unseren wirtschaftlichen Problemen fertig zu werden. Wann werden wir endlich ein normales Leben in Freiheit leben können? Im Moment leben wir wie Sklaven."
Ein afghanisches Mädchen arbeitet in einer Ziegefabrik.
Schuften statt zur Schule zu gehen: In afghanischen Ziegelfabriken arbeiten auch Kinder.© picture alliance / dpa / Photoshot / Ahmad Massoud
Einige Bauern sind in den vergangenen Jahren auf Opium-Anbau umgestiegen. Aus schierer Not, sagte Mohammad Ahmadi. Andernfalls könne er nicht über die Runden kommen, sagte der 20 Jahre alte Landwirt im Bezirk Panjwayi, in der südlichen Provinz Kandahar.
"Niemand macht das gerne. Eigentlich wollte ich meine Ausbildung fortsetzen, aber die wirtschaftliche Lage zwingt mich zu dieser Arbeit. Die Regierung sagt zwar immer, wir sollen kein Opium anbauen, aber sie bietet uns ja keine Alternativen. Die Opium-Ernte dauert etwa 18, 19 Tage. In dieser Zeit arbeite ich auf dem Feld und bekomme dafür genug Geld, um meine Familie zu unterstützen."

Die Taliban sind auf dem Vormarsch

Der Süden der Provinz Kandahar ist nicht direkt Taliban-Gebiet, gilt aber als umkämpft, das heißt, hier gibt es immer wieder Gefechte mit den afghanischen Streitkräften um die Kontrolle über die Region. Nach einem Bericht der US-Behörde für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR) sind die Taliban seit zwei Jahren auf dem Vormarsch und übernehmen immer mehr Provinzen.
Ein Grund dafür scheint die Mannschaftsstärke der afghanischen Streitkräfte zu sein. Sie ist offenbar deutlich geringer als angenommen. Allein im zweiten Quartal dieses Jahres sei die Zahl der Soldaten um zehn Prozent niedriger gewesen als im Vorjahreszeitraum, hieß es in einem SIGAR-Bericht. Das entspreche rund 42.000 Soldaten. Die Differenz sei zustandegekommen, weil jetzt genauer nachgezählt werde, um die sogenannten Geistersoldaten, Ghost Soldiers, zu erfassen und aus dem Bestand zu streichen. Solche Karteileichen gebe es auch in anderen Bereichen, nicht nur bei den Streitkräften und der Polizei, sagt Thomas Ruttig, vom Afghanistan Analysts Network. Dies sei eine weit verbreitete Form der Korruption:
"Das funktioniert so, dass Soldaten in den Soldlisten bestimmter Einheiten namentlich aufgeführt und nach oben gemeldet werden, obwohl sie gar nicht existieren. Wenn dann die Gehälter überwiesen werden, unterschlagen die Vorgesetzten dieses Geld. Das wird auch dadurch erleichtert, dass es eine große Fluktuation gibt, dass manchmal Leute noch vor kurzer Zeit auf der Soldliste standen und deren Ausscheiden nicht gemeldet wird. Da gibt es viele Möglichkeiten der Manipulation."
Ein afghanischer Bauer steht in einem Mohnfeld und begutachtet die Ernte
Ausweg aus der Not? - Produktion und Handel illegaler Drogen sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Afghanistan. © picture alliance / dpa / Mohammad Sharif Shayeq / NurPhoto
Das afghanische Verteidigungsministerium wies den SIGAR-Bericht über die Existenz von Geistersoldaten zurück. Doch das Problem sei allseits bekannt, sagte der frühere Vize-Minister, Mirza Mohammad Yarmand, in einer Diskussionssendung zu diesem Thema im afghanischen Fernsehsender TOLO News.
"Das Verteidigungsministerium sagt zwar offiziell, so etwas gebe es nicht, aber das stimmt nicht ganz. Manchmal ist ein Soldat im Urlaub und die Familie drängt ihn, nicht wieder an die Front zurückzugehen. Sein Sold läuft aber weiter, bis ihn die Einheit offiziell aus dem Bestand streicht."

Zahlreiche Anschläge in den vergangenen Wochen

Schon lange sind die afghanischen Streitkräfte und die Polizei mit der Aufgabe überfordert, für Sicherheit im Land zu sorgen. In vielen Provinzen sind die Taliban auf dem Vormarsch. Während der Gespräche mit den USA über ein Ende des Krieges, die seit Anfang 2018 geführt wurden, haben die Taliban immer mehr Bezirke unter ihre Kontrolle gebracht und so ihre Verhandlungsposition gestärkt. Viele Gefechte zwischen den afghanischen Streitkräften und den Taliban gingen auch deshalb verloren, weil Kontrollposten und Kampfeinheiten über viel weniger Soldaten verfügen, als die Armeeführung annimmt, meint Thomas Ruttig.
"Wir haben Berichte gehört, über kleine Gefechte, wenn etwa ein Kontrollposten der Polizei oder der Armee angegriffen wird. Und wenn der Kommandeur dann 100 Leute gemeldet hat, er aber nur 25 hat – und meist sind das diese Größenordnungen – dann kann er den Posten nicht halten. Und dann heißt es, da seien Hunderte Taliban gekommen und man habe sich zurückziehen müssen. Aber in Wirklichkeit liegt es daran, dass er nicht genug Kräfte hatte, um sich zu verteidigen."
Keine guten Aussichten für die Zukunft der Afghanen. Auch auf den Straßen der Hauptstadt ist die Sicherheitslage angespannt. In den vergangenen Wochen hat es zahlreiche Anschläge auf Checkpoints und Regierungseinrichtungen gegeben.

Kinder ernähren mit ihrer Arbeit ihre Familien

Für die Kinder ist die Lage besonders schlimm. Jahrzehntelanger Krieg und Terror haben das Leben ganzer Generationen zerstört. Jeden Tag sitzt der zwölfjährige Zabihulla Mujaheed als Schuhputzer an einer Straßenkreuzung und wirbt um Kunden.
An guten Tagen könne er so 100 Afghani verdienen, sagte er, umgerechnet etwas mehr als einen Euro.
"Mein Vater wurde getötet und jetzt muss ich hier arbeiten. Wenn ich kein Geld verdiene, haben meine Mutter und meine Geschwister nichts zu essen."
Frieden hat der afghanische Junge noch nie erlebt. Aber er sehnt sich danach, dass sich die Taliban und die Regierung endlich einigen.
"Ich hasse die Taliban. Aber ich will auch, dass wir bald Frieden und Stabilität haben in Afghanistan. Das Töten von Kindern und die ständigen Anschläge, das muss doch endlich aufhören."
Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es im vergangenen Jahr die höchste Zahl ziviler Opfer in Afghanistan seit dem Beginn der Militärintervention der USA und der Nato vor 18 Jahren. Besonders betroffen seien Kinder, sagte Richard Benett von der Unterstützungmission UNAMA Anfang des Jahres in Kabul:
"3804 Zivilisten wurden im Jahr 2018 getötet, darunter eine Rekordzahl von Kindern: fast 1000 Jungen und Mädchen sind im vergangenen Jahr in Folge des Konflikts gestorben, 927 um genau zu sein. Insgesamt gab es 10.993 Zivilisten, die getötet oder verletzt wurden."

Bücher als Fenster zu einer besseren Welt

Doch mitunter gibt es einen Silberstreif am Horizont, ein kleines bisschen Hoffnung und Ablenkung vom tristen Alltag. Wenn der Büchereibus der Hilfsorganisation Charmagz in den Stadtteil kommt. In den Bücherregalen, die in den alten grünen Bus eingebaut wurden, finden die Kinder und Jugendlichen Märchen und Abenteuergeschichten, die sie in eine andere, vielleicht bessere Welt führen. So wie der elfjährigen Farzad und die beiden zwölf Jahre alten Mädchen, Susan und Asraa.
"Wenn ich diese Geschichten hier lese, dann stelle ich mir vor, ich wäre in einer anderen Welt."
"Wir sind glücklich, wenn wir Bücher lesen können. Man kann so viel dabei lernen."
"Ich fühle mich sehr gut, wenn ich Bücher lese. Ich mag diese Geschichten."
Mädchen und Jungen lernen gemeinsam in einer Schule in Kabul, Afghanistan.
Die Kinder in die Schule schicken: Für viele Familien in Afghanistan ist das ein Luxus, den sie sich nicht leisten können. © picture alliance / dpa / Photononstop
Bildung sei das Wichtigste für die junge Generation, sagt Freshta Karim, die Initiatorin des Projekts. Ganz besonders für die Mädchen. Während der Taliban-Herrschaft durften Mädchen nicht zur Schule gehen. Sollten die Taliban an die Macht zurückkehren, könnte dies wieder passieren.
"Es macht mich sehr glücklich, wenn ich sehe, wie neugierig die Kinder sind. Sie haben so viele Fragen und können sich über kleine Dinge freuen. Sie sind offen für alles, was sie lernen können. Das fasziniert mich wirklich an den Kindern. Im Moment haben wir zwei Büchereibusse und ein mobiles Kino. Wir sind in verschiedenen Stadtteilen Kabuls unterwegs. Und irgendwann wollen wir auch in die Provinzen."

Jedes vierte Kind arbeitet, statt zur Schule zu gehen

Afghanistan gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Bildungsrate weltweit. Nach Angaben der UNESCO können unter den erwachsenen Afghanen über 15 Jahre nur drei von zehn lesen und schreiben. Und jedes vierte Kind muss seinen Eltern bei der Arbeit helfen, statt zur Schule zu gehen.
Sollte irgendwann Frieden einkehren in Afghanistan, so lautet die immer wieder zum Ausdruck gebrachte Hoffnung der Afghanen, könnte sich die wirtschaftliche Lage im Land endlich verbessern und damit auch die Lebenssituation der Menschen.
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