Neuer Präsident, düstere Zukunft
Trotz neuer Regierung: Afghanistan steht am Abgrund. Die Taliban sind in der Offensive, ohne die nächste kräftige Finanzspritze aus dem Ausland ist das Land zahlungsunfähig. Es steht viel auf dem Spiel - für alle Beteiligten.
Eisverkäufer Fazil schiebt mit seinem dröhnenden Eiswagen durch die staubigen Straßen von Kabul. Die Musik soll Kundschaft anlocken. Fazil hatte bis vor wenigen Monaten einen gut bezahlten Job in einer Baufirma. Als Eismann verdient er heute maximal drei Euro am Tag, wenn es richtig gut läuft.
"Ich habe wegen der Wahl meinen Job verloren", erzählt Fazil. "Der Machtkampf hat Arbeitsplätze vernichtet und Leute wie mich auf die Straße getrieben. Es gab einfach keine Aufträge mehr." Der Tagelöhner hat die Nase voll. Ihm ist es längst egal, wer die Wahl gewonnen hat. Er will einfach nur, dass der Stillstand aufhört.
Die Afghanen werden auf offiziellem Weg wahrscheinlich sowieso nie erfahren, was mit ihren Stimmen passiert ist. Sie wissen, dass Ashraf Ghani ihr neuer Präsident wird und dass er die Macht mit seinem Kontrahenten Abdullah Abdullah teilen muss. Afghanistan bekommt eine Regierung der Nationalen Einheit, ohne dass ein offizielles Wahlergebnis verkündet worden ist. Keine Seite soll nach der gefälschten Stichwahl vom Juni offiziell als Gewinner oder Verlierer dastehen. Die afghanische Menschenrechtlerin Wazhma Frogh analysiert den Ausgang des bitteren Wahldramas so:
"Es gab am Ende keine andere Möglichkeit als diese Einheitsregierung. Dieses Land hat so viele Bevölkerungsgruppen. Und so viele politische und soziale Gruppen. Wenn nur eine Gruppe an der Macht ist, schafft das riesige Probleme. In jeder ethnischen Gruppe gibt es starke Führer, die bewaffnete Kräfte mobilisieren können. Jetzt wird es sehr darauf ankommen, das Überleben der Einheitsregierung zu sichern. Ich denke, Ghani und Abdullah haben erkannt, dass die internationale Gemeinschaft ihre Hilfe einstellen wird, wenn sie nicht zusammenarbeiten. Die Welt hat längst andere Sorgen, vor allem mit Syrien, Irak, Russland und der Ukraine. Die beiden Lager wollen ihre internationale Unterstützung nicht verlieren."
Afghanistan ist von internationaler Hilfe abhängig
Die internationale Unterstützung der vergangenen 13 Jahre ist aber auch ein großer Teil des Problems, betont Kate Clark vom "Afghanistan Analysts Network" in Kabul:
"Wir reden bei Afghanistan ja immer über ein Land, das einen Konflikt hinter sich hat. Aber das stimmt nicht. In diesem Land tobt ein bewaffneter Aufstand gegen den Staat. In der Regierung und in der Opposition gibt es auch Gruppen, die schnell zu den Waffen greifen können. Wir haben es mit einem Staat zu tun, der komplett von ausländischer Hilfe abhängig ist. Afghanistan ist ein Land mit Eliten, die sich nicht vor ihrer Bevölkerung verantworten müssen. Wir als internationale Gemeinschaft haben diese Eliten entweder militärisch geschützt oder ihnen viel Geld gegeben. Präsident Karzai konnte regieren, weil er seine Freunde gefördert und seine Gegner gekauft hat. Dieser Staat funktioniert durch das Geld, das von außen ins Land fließt."
Das Geld wird vorerst weiterfließen. Als eine seiner ersten Amtshandlungen wird der designierte Präsident Ashraf Ghani Sicherheitsabkommen mit den USA und der NATO unterzeichnen, damit auch nach dem Abzug der Kampftruppen im Dezember bis zu 15.000 internationale Soldaten im Land bleiben. Als Trainer, als Berater und als finanzielle Absicherung. Graeme Smith von der "International Crisis Group" sieht die NATO-Staaten in der Pflicht:
"Afghanistan ist der größte, blutigste und teuerste Einsatz der NATO außerhalb ihres Kerngebiets. Und es ist ein Einsatz, der nicht gut läuft. Die NATO-Staaten sollten Verantwortungsbewusstsein zeigen, und sich vielleicht auch für den Verlauf des Einsatzes schämen. Ich komme aus einer kleinen Stadt in Kanada. Wenn ich in ein Geschäft gehe und etwas zerstöre, dann muss ich dafür gerade stehen. Und wenn du in einem Land eingreifst und Schaden anrichtest, dann solltest du dafür auch gerade stehen."
Tausende Menschen verlieren gerade ihre Arbeit
Afghanistan und seine neue Regierung der nationalen Einheit stehen vor gewaltigen Problemen. Durch den laufenden Abzug der NATO-Kampftruppen fließt viel Geld ab. Tausende Menschen verlieren ihre Arbeit. Das monatelange Wahldrama hat die Wirtschaftskrise verschärft. Die politischen Strukturen sind schwach. Es fehlt Rechtsicherheit. Korruption höhlt den Staat aus. Die Taliban sind landesweit in der Offensive. "Weil die Menschen uns unterstützen", sagt Syed Agha Akbar. Er ist ein ehemaliger Taliban-Kommandeur, der heute in Kabul lebt. Er saß mehrere Jahre im Gefängnis, bis der scheidende Präsident Karzai ihn begnadigte:
"Alle ausländischen Soldaten müssen das Land verlassen. Aber die USA versuchen alles, um uns zu kontrollieren und dauerhaft hier im Land zu bleiben", kritisiert Agha Akbar. Und wiederholt: Solange auch nur ein einziger ausländischer Soldat in Afghanistan stationiert sei, werde es keinen Frieden geben.
Was Hoffnung macht in diesem ungebrochenen Kreislauf der Gewalt ist die Bevölkerung. Die Schüler und Studenten. Und die mindestens sechs Millionen Menschen, die zwei Mal ihr Leben riskiert haben, um einen neuen Präsidenten zu wählen - in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Sicherheit.