Doppelte Flucht
Voller Wehmut denkt der Afghane Jawed Haqmal heute an seine Heimat zurück, die er nach der Machtübernahme der Taliban mit seiner Familie verlassen musste. © Deutschlandradio / Jawed Haqmal
Von Kabul über Kiew bis nach Deutschland
05:54 Minuten
Als die Taliban im vergangenen Jahr Richtung Kabul vorrücken, wird Übersetzer Jawed Haqmal mit seiner Familie ausgeflogen und landet in Kiew. Eine neue Heimat ist die Ukraine nicht. Wegen des Krieges flieht Familie Haqmal weiter nach Deutschland.
In Deutschland zu leben war nie sein Ziel. Seit fünf Monaten lebt Jawed Haqmal in Gronau, einer Kleinstadt nahe Hildesheim. Die Kirche hat dort ein Gebäude für Flüchtlinge gemietet und der dreizehnköpfigen Familie eine Wohnung zur Verfügung gestellt.„In Afghanistan habe ich meine Familie immer finanziell unterstützt. Als ich geflüchtet bin, musste ich alle mitnehmen.“
Fünf Jahre hat der 33-jährige Familienvater als Übersetzer für das kanadische Militär gearbeitet. Solange die internationalen Truppen in Afghanistan stationiert waren, war das ein guter Job – bis sich die Situation zuspitzte. „Hätte ich nicht fürs kanadische Militär gearbeitet, stünde ich nicht auf der schwarzen Liste der Taliban. Ich hätte in meinem Land bleiben können. Das würde mich so glücklich machen.“
Angespanntes Warten am Flughafen in Kabul
Haqmal zieht mit seiner Frau, den vier Kindern, den Eltern und drei Brüdern von Kandahar im Süden Afghanistans in die östlich gelegene Hauptstadt Kabul. „Letzten Mai, kurz bevor Afghanistan gefallen ist, haben mir einige meiner kanadischen Freunde vorausgesagt, was passieren wird", erinnert er sich. "Sie sagten, die Situation verschlechtere sich von Tag zu Tag. Ich müsse nach Kabul ziehen, und zwar am besten in die Nähe des Flughafens.“
Als im August 2021 Afghanistan von den Taliban erobert wird und auch Kabul fällt, sind Ortskräfte, die für die Alliierten gearbeitet haben, besonders gefährdet. Haqmal weiß das sehr genau. Er hat Angst und will das Land mit seiner Familie so schnell wie möglich verlassen. „Kurz vor der Flucht habe ich neben dem Flughafen gelebt und darauf gewartet, hineinzukommen.“
Rettung in letzter Minute
Im August 2021 versuchen Tausende, Afghanistan auf dem Luftweg zu verlassen. Überall herrscht Chaos. „In einer Nacht, ich habe neben dem Flughafen geschlafen, da gab es einen großen Selbstmordanschlag", sagt Haqmal. "Mehr als hundert Menschen starben, aber ich blieb dort. Ich musste versuchen, meine Familie zu retten, auch wenn ich dabei sterbe.“
Nach und nach ziehen die internationalen Truppen ab. Die Chancen für die Familie, rechtzeitig evakuiert zu werden, schwinden. Aber in letzter Minute kommt die Rettung. Einer seiner kanadischen Berater hatte Freunde beim ukrainischen Militär. Er bat sie, die Familie mitzunehmen.
Abflug nach Kiew
Haqmal bekommt für sich und seine Familie Plätze in einem Flieger nach Kiew. Seinen Vater und seinen Bruder muss er zurücklassen, die Plätze reichen nicht für alle.
In der Ukraine bleibt Haqmal sechs Monate. Er lebt von seinen Ersparnissen, besorgt Medikamente für die zuckerkranke Mutter, organisiert regelmäßige Arztbesuche für seine schwangere Frau. Dann bricht auch in der vermeintlich sicheren Ukraine am 24. Februar der Krieg aus.
„Raketen schlugen in der Stadt ein. Die Kinder haben nur geweint. Sie rannten in die Arme ihrer Mutter und rannten ins Bad und schliefen die ganze Zeit im Bad. Kein Essen, kein Wasser, nichts.”
Immer weiter Richtung Westen
Haqmal leiht sich Geld von einem afghanischen Ladenbesitzer, den er in Kiew kennengelernt hat. Gemeinsam mit ihm flieht die Großfamilie erst nach Polen, dann nach Deutschland. „Ich habe mich das erste Mal sicher gefühlt. Wir hatten genug zu essen. Genug Kleidung. Ich war so glücklich.”
Die Familie wird nach Niedersachsen geschickt, wo sie ein Apartment bekommen. Nach Kanada weiterreisen wollen sie nicht mehr.
„Die kanadische Botschaft in Berlin hat mir angeboten, nach Kanada auszuwandern", sagt Haqmal. "Ich habe abgesagt. Ihr habt mir in meiner schlimmsten Zeit nicht geholfen. Jetzt brauche ich Euch auch nicht mehr.”
Der dunkelhaarige Mann wirkt traurig, wenn er an seine Heimat Afghanistan denkt. Er weiß, dass sich sein Vater seit Monaten im Haus eines Verwandten versteckt. In seinem eigenen Haus in Kandahar lebt jetzt ein Offizier der Taliban.
„Ich vermisse das alles so sehr", sagt er. "Wir haben mehr als 40 Jahre in diesem Haus gelebt. Ich habe meinen Vater und meinen Bruder verlassen. Es ist wirklich schwierig.“
Nachwuchs in Deutschland
Der 33-Jährige will in Deutschland bleiben. Die Sprache lernen, arbeiten, am besten wieder als Übersetzer. Ein neues Zuhause aufbauen. Sein Sohn und die drei Töchter jedenfalls gehen schon zur Schule, und die Familie hat sich vergrößert. Vor einem Monat kam die kleine Haya zur Welt. In einem Krankenhaus in Hildesheim.