Norbert Scheuer: "Die Sprache der Vögel"
C.H. Beck 2015
238 Seiten, 19,95 Euro
Der Spatz im Panzerwrack
In seinem für den Leipziger Buchpreis nominierten Roman "Die Sprache der Vögel" schickt Norbert Scheuer einen Bundeswehrsanitäter nach Afghanistan. Im Einsatz erlebt er Grauen und Langeweile - und findet Zuflucht in der Beobachtung von Vögeln.
Leben ist Leiden in Norbert Scheuers viertem Roman. Jeder entwickelt Techniken des Vergessens: Die eine ritzt sich, um keinen anderen Schmerz mehr zu spüren, ein anderer spielt mit dem Zauberwürfel gegen zu viel Bewusstsein an. Paul Arimond beobachtet Vögel.
Paul ist im Sanitätsdienst bei der Bundeswehr. Er hat sich für einen Afghanistaneinsatz gemeldet, um seinem Leben in der Eifelprovinz zu entkommen, das in Schuld zu ersticken droht: Er hatte einen Autounfall; der Jugendfreund, der neben ihm saß, überlebte nur mit schweren Hirnschäden.
Langeweile und zerfetzte Körper
Aber die Monotonie und die militärischen Routinen in Afghanistan, die Paul in seinem 2003 geführten Tagebuch beschreibt, verstärken die Melancholie. Warten, Langeweile, dann hinaus, um verletzte Soldaten oder zerfetzte Körper zu bergen. Pauls Zuflucht wird die Vogelbeobachtung. Anfangs wirkt die ornithologische Passion ein wenig aufgesetzt. Ein Soldat, der jubelt, wenn er auf einer Satellitenschüssel "einen Bergpieper im Brutkleid" beobachten kann, oder Moabsperlinge, die in einem russischen Panzerwrack nisten? Wen schrecken die Taliban, wenn sich ein "Trupp Rotstirngirlitze" im Sperrgebiet aufhält?
Vogelbeobachtung als Schule der Konzentration und Beruhigung hat jedoch Tradition in der Familie. Als Kind zog Paul mit seinem Vater los, um Uhus in einem stillgelegten Steinbruch zu beobachten; für den Vater war es eine Ablenkung von der Misere seiner Ehe. Und dann gibt es noch einen legendären Vorfahren, Ambrosius Arimond, der im späten 18. Jahrhundert durch Afghanistan reiste, Vögel beobachtete und einen wundersamen Flugapparat baute.
Immer dichter wird die Motivik, und damit immer überzeugender. Die Vögel, die im Buch auch dank zahlreicher Kaffeeaquarelle wunderbar anschaulich werden, stehen für eine metaphysische Sehnsucht: Die flimmernde Luft und die afghanische Sonne verwandeln ihr Gefieder zu "Schattenrissen von etwas Unwirklichem". Unwirklich erscheint Paul auch der See im Sperrgebiet, ein magisches Gewässer wie ein Auge, das ständig seine Farbe wechselt. Dorthin zu gelangen, wird für ihn zur fixen, todessehnsüchtigen Idee – bis ihn eines Nachts auch die militärischen Sicherungen nicht mehr schrecken.
Schimärisch leuchtende Gegenbilder zur Gegenwart
Zu Pauls Tagebuchnotizen und den auktorial erzählten Kapiteln über das Leben der Familie in der Eifel kommen in altertümlichen Stil gehaltene Aufzeichnungen Ambrosius Arimonds über Afghanistan als ein Arkadien voller grandioser Natureindrücke, exotischer Genüsse und gastfreundlicher Menschen – schimärisch leuchtende Gegenbilder zur Gegenwart, zu den Panzerwracks und Ruinen, zum allgegenwärtigem Misstrauen und zu den auf der Straße liegenden menschlichen Organen, die Paul mit Latexhandschuhen einsammelt.
Erst wirkt die Konstruktion aus mehreren literarischen Diskursen (Afghanistanroman, Familiendrama, Neue Naturkunden) etwas gewollt. Dann aber zieht das Buch immer mehr in den Bann, nicht durch einen dramatischen Plot (obwohl auch die Spannung gegen Ende steigt), sondern durch Norbert Scheuers Kunst magischer Bilder und eindringlicher Beschreibungen (zum Beispiel eines Drohnenprogrammierers, der mit den Nerven am Ende ist). "Die Sprache der Vögel" ist ein Buch, das unter die Haut – und auf die Netzhaut geht.